Gutachtenauftrag überschritten: Sachverständiger befangen?

OLG München, Beschluss vom 05.05.2023 - 31 W 259/23 ZPO §§ 42, 406

1. Zweifel an der Unparteilichkeit des Sachverständigen können auch dadurch begründet sein, wenn seine Feststellungen über die durch den Beweisbeschluss vorgegebenen Beweisfragen hinausgehen.
2. Hiervon ist regelmäßig auszugehen, wenn der Sachverständige bei der Gutachtenerstellung eigenmächtig über die ihm durch den Beweisbeschluss und den Gutachtenauftrag gezogenen Grenzen hinausgeht und sich daraus eine parteiliche Tendenz zu Gunsten oder zu Lasten einer Partei ergibt.
3. Nicht jede Überschreitung des Gutachtenauftrags rechtfertigt bereits die Besorgnis der Befangenheit. Vielmehr ist insoweit eine Entscheidung nach Lage des Einzelfalls zu treffen.

 

OLG München, Beschluss vom 05.05.2023 - 31 W 259/23

ZPO §§ 42406

 

Problem/Sachverhalt

In einem O-Verfahren vor einer Baukammer wird ein öffentlich bestellter und von der zuständigen IHK dem Gericht benannter Sachverständiger aufgrund eines Beweisbeschlusses mit Feststellungen beauftragt. Auf ein Hauptgutachten des Sachverständigen folgt ein Ergänzungsgutachten, weil der Sachverständige u. a. zur Feststellung der Tragfähigkeit einer Decke seinen Augenschein ausreichen lassen will, hiervon aber eine durchzuführende Gefahreneinschätzung abhängt. Es folgt ein zweites Ergänzungsgutachten. Darin beantwortet der Sachverständige wiederum nicht konkret die Fragestellungen zu den statischen Verhältnissen, er befasst sich mit Fragen einer neuen Anlage und einer alternativen Bauausführung. Das war nicht gefragt und beauftragt. Die Ablehnung des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit durch Überschreitung des Gutachtenauftrags und indirekter Begünstigung einer Partei scheitert beim Landgericht. Dagegen wendet sich die belastete Partei.

Entscheidung

Das OLG gibt der Beschwerde statt, weil Zweifel an der Unparteilichkeit eines Sachverständigen auch dadurch begründet sein können, wenn seine Feststellungen über den Auftrag hinausgehen und vom Auftrag nicht erfasste Fragen aufgeworfen und beantwortet werden. Das ist der Fall, wenn der Sachverständige eigenmächtig von seinem Auftrag abweicht und sich daraus eine parteiliche Tendenz ergibt. Das OLG hat die gesamte Historie der Begutachtung untersucht und kommt zu dem Schluss, dass bei Gesamtwürdigung die ablehnende Partei berechtigte Befürchtungen haben konnte, dass der Sachverständige ihr gegenüber nicht unvoreingenommen sei. Das OLG betont abschließend, dass der gerichtliche Sachverständige eben in einer anderen Rolle ist als er es z. B. als ein von einer Partei privat beauftragter beratender Ingenieur, also nicht technische Lösungen eines Problems suchen oder vorschlagen könne und dürfe.

Praxishinweis

Die Fälle wirksamer Ablehnung von gerichtlichen Sachverständigen sind selten, weil man den Sachverständigen grundsätzlich Spielräume erhalten will und es "Schule machte", wenn schon "leise Zweifel" an der Neutralität einer Sachverständigen zur Ablehnung führen können. Leider gibt es nicht wenig Fälle in denen dem unbefangenen Leser einer Entscheidung über einen Ablehnungsantrag nicht deutlich wird, wie weit Sachverständige gehen können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Der Sachverständige ist schließlich in der Rolle als "technischer Richter". Das OLG hat sich in der besprochenen Entscheidung sehr viel Mühe gemacht, das Verhalten des Sachverständigen zu untersuchen. Das geschah sicher auch mit dem Bemühen, den Einzelfall herauszustellen.

 

RA und FA für Bau- und Architektenrecht, FA für Vergaberecht Georg Sturmberg, Köln