Großbaustelle mit Kran

„Document Production“ in Bau-Schiedsverfahren

In internationalen Schiedsverfahren werden Bauunternehmen häufig unvorbereitet mit der weitreichenden Pflicht zur Vorlage von Dokumenten konfrontiert. Gerade bei Streitigkeiten zu großvolumigen Projekten kann die sogenannte „Document Production“ zu einem der kosten- und zeitintensivsten Verfahrensabschnitte geraten. Zudem führt sie mitunter dazu, dass der Gegenseite unfreiwillig die von ihr benötigten Beweismittel zugänglich gemacht werden müssen. Der Beitrag erläutert, warum Parteien von der Document Production oft überrascht werden, stellt ihren üblichen Ablauf dar und zeigt auf, wie ein ausuferndes Verfahren vermieden werden kann.

A. Einführung

Großprojekte im Bau- und Anlagenbau werden immer häufiger mit Beteiligten aus verschiedenen Ländern verwirklicht. Für die Vertragsgestaltung bedeutet das meist, dass Auftragnehmer oder Auftraggeber bekanntes Terrain verlassen und sich auf Klauseln oder ganze Vertragswerke einlassen müssen, die sich außerhalb dessen bewegen, was hierzulande üblich ist. Damit verbunden ist nicht nur, dass Verträge materiell-rechtlich auf fremden Rechtsordnungen aufsetzen, sondern auch Streitigkeiten nicht vor staatlichen Gerichten sondern vor Schiedsgerichten auszutragen sind. Ganz nebenbei verständigen sich die Parteien hierbei ausdrücklich oder auch stillschweigend – und oft unbewusst – gleichzeitig auf die Durchführung einer sogenannten Document Production im Streitfall. Das kann gerade bei langwierigen Bauprojekten, an denen eine Vielzahl von Personen beteiligt sind, dazu führen, dass auf Antrag der Gegenseite tausende von internen Dokumenten vorzulegen sind und ein Vielfaches an Unterlagen zuvor zu sichten und auf Relevanz zu prüfen ist. Aufwand und Kosten hierfür können astronomisch sein. Häufig wird eine Partei auch nicht vermeiden können, Unterlagen vorzulegen, die sie lieber nicht in den Händen der Gegenseite sehen wollte.

B. Woher kommt Document Production und wie findet das Konzept Eingang in ein Schiedsverfahren?

I. Das Common Law als Ausgangspunkt

Das Konzept der Document Production stammt aus dem Common Law. Fester Bestandteil des Prozessrechts in Großbritannien und den USA ist beispielsweise die „Disclosure“ (1)  bzw. „Discovery“ (2) . Dort kann jede Partei während eines anhängigen Prozesses – meist vor der mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme – in großem Umfang die Vorlage von Unterlagen der Gegenseite verlangen, die im Zusammenhang mit dem Streitgegenstand stehen. Dahinter steht die Vorstellung, der Prozess diene dem Auffinden der „materiellen“ Wahrheit. (3)  In den USA reicht die Pflicht zur Dokumentenvorlage noch deutlich weiter als in Großbritannien. (4)

Mitunter wird von Fällen berichtet, in denen die eigentliche Motivation für eine Klageeinreichung nicht die Durchsetzung der darin verfolgten Ansprüche, sondern die Einsicht in Unterlagen sei, die in anderer Sache aus rechtlicher oder betrieblicher Sicht von Interesse sind. Wer schon einmal in einen größeren Prozess vor US-amerikanischen oder britischen Gerichten involviert war, kennt die Bilder von Horden von Anwälten, die in – realen oder virtuellen – Datenräumen tausende von Dokumenten durchsehen. Sie hoffen dabei, Hilfreiches für den eigenen Fall zu entdecken oder gar die berühmte „smoking gun“ zu finden – das bei der Gegenseite „vergrabene“ Schriftstück, das den entscheidenden Beweis für den eigenen Vortrag liefert.

Dieses Konzept ist den kontinentaleuropäischen Jurisdiktionen weitgehend fremd. Zwar sieht auch die ZPO in § 142 Abs. 1 die Möglichkeit vor, dass ein Gericht die Vorlage von Dokumenten verlangen kann. Die praktische Bedeutung und Reichweite dieser Vorschrift ist aber nicht im Ansatz vergleichbar mit den beschriebenen Gepflogenheiten im Common Law. (5)  Das liegt auch daran, dass nach kontinentaleuropäischem Rechtsverständnis keine Partei verpflichtet ist, der Gegenseite Dokumente zukommen zu lassen, die ihrem eigenen Fall schaden. (6)  Konzeptuell dient der Prozess nach traditionellem Verständnis dem Auffinden der „prozessualen“ Wahrheit. (7)  Das bedeutet, jede Partei hat die ihr günstigen Tatsachen mit den Dokumenten zu beweisen, die sich in ihrem Besitz befinden; das Gericht entscheidet nach Darlegungs- und Beweislast. Dementsprechend darf nach Ansicht des Bundesgerichtshofs „das Gericht die Urkundenvorlegung nicht zum bloßen Zwecke der Informationsgewinnung, sondern nur bei Vorliegen eines schlüssigen, auf konkrete Tatsachen bezogenen Vortrags der Partei anordnen.“ (8)

II. Die Regelungen in den IBA-Beweisregeln und Schiedsordnungen

Nun liegt die Frage nahe, warum eine deutsche Partei Konzepte wie Disclosure und Discovery tangieren sollten, solange sie nicht einen Prozess vor amerikanischen oder britischen Gerichten führt. Schließlich verhalten sich die gängigen Schiedsordnungen, wie etwa die der ICC (9) , der SCC (10) , der LCIA (11)  oder – in Deutschland – der DIS (12) kaum oder nur sehr vage zur Document Production. (13)  Der Grund, warum eine deutsche Partei in einem Schiedsverfahren – oft ungeahnt – von den im Common Law vorherrschenden Vorstellungen über weitreichende Dokumentenvorlagepflichten betroffen sein kann, liegt darin, dass sich gewisse Einflüsse angelsächsischer Rechtssysteme international zunehmend durchsetzen. (14)  Eines der wichtigsten Einfallstore sind die „IBA-Regeln zur Beweisaufnahme in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit“ (im Folgenden: „IBA-Beweisregeln“).(15) Diese Regeln sind das Arbeitsprodukt eines Komitees der International Bar Association, das sich aus Vertretern unterschiedlicher Länder und Rechtssysteme zusammensetzt. (16)  Erklärtes Ziel der IBA-Beweisregeln ist es, unterschiedlichen Ansätzen aus den verschiedenen Rechtskulturen gerecht zu werden. So heißt es im Vorwort der deutschen Übersetzung: „Die IBA-Beweisregeln enthalten Verfahrensweisen, die in zahlreichen unterschiedlichen Rechtssystemen verwendet werden; sie können besonders dann nützlich sein, wenn die Parteien eines Schiedsverfahrens verschiedenen Rechtskulturen angehören.“ Sieht man sich einzelne Vorschriften an, wird schnell deutlich, dass es sich nicht um Verfahrensweisen handelt, „die in zahlreichen unterschiedlichen Rechtssystemen verwendet werden“. Das wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Tatsächlich stellen die Regeln meist Kompromissformeln dar, mit denen versucht wird, eine Balance zwischen den aufeinanderprallenden Prozessrechtskulturen und Gepflogenheiten zu finden.

Dabei unterscheiden sich die IBA-Beweisregeln zur Document Production im Ausgangspunkt nicht einmal wesentlich von der Regelung des § 142 Abs. 1 ZPO . (17) So heißt es in Artikel 3 Abs. 1 (18) : „Jede Partei hat innerhalb der vom Schiedsgericht bestimmten Frist dem Schiedsgericht und den anderen Parteien sämtliche Dokumente einzureichen, auf die sie sich stützt und über die sie verfügt…“. In den weiteren Absätzen ist geregelt, dass und unter welchen Voraussetzungen darüber hinaus das Schiedsgericht befugt ist, auf Antrag einer Partei die Vorlage weiterer Dokumente oder Kategorien von Dokumenten anzuordnen.

Was auf den ersten Blick gar nicht so weit von dem entfernt scheint, was wir aus dem deutschen Zivilprozessrecht kennen, erhält in der Praxis allerdings völlig andere Dimensionen, die eine kontinentaleuropäische Partei überraschen und überwältigen können. Denn während § 142 Abs. 1 ZPO  nur in seltenen Fällen zur Anwendung kommt (19), ist eine umfangreiche Document Production in internationalen Schiedsverfahren eher die Regel. (20)  Dies gilt insbesondere dann – aber nicht nur dann – wenn britische oder US-amerikanische Parteien oder Anwälte beteiligt sind. Die Erfahrung zeigt, dass die dortigen Gepflogenheiten so tief in den Vorstellungen der Beteiligten von einem fairen Prozess verhaftet sind, dass eine Document Production aus deren Sicht gleichsam ein selbstverständlicher Bestandteil eines jeden Verfahrens ist. Mittlerweile haben die Vertreter des Common Law derart das internationale Schiedswesen geprägt, dass auch viele Schiedsrichter aus kontinentaleuropäischen Rechtssystemen offenbar der Meinung sind, zu jedem Schiedsverfahren mit internationalem Gepräge gehöre eine Document Production; dies sogar dann, wenn die beteiligten Parteien in sogenannten Civil Law-Systemen beheimatet sind und sich auch der vereinbarte Schiedsort in Kontinentaleuropa befindet. (21)

Aber wie erhalten nun die IBA-Beweisregeln Eingang in das Schiedsverfahren? Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Zum einen können die Parteien dies bereits in der Schiedsvereinbarung vorsehen, etwa mit der entsprechenden von der IBA vorgeschlagenen Klausel:

„Es wird vereinbart, dass das Schiedsverfahren nach den IBA-Beweisregeln in der zum Zeitpunkt [des Vertragsschlusses/der Einleitung des Schiedsverfahrens] gültigen Fassung geführt werden soll.“ (22)

Oder direkt auf Document Production bezogen:

„Das Schiedsgericht kann [zusätzlich zu der dem Schiedsgericht insoweit durch die [Schiedsregeln] eingeräumten Befugnis] die Vorlage von Dokumenten [nach Maßgabe der IBA-Regeln zur Beweisaufnahme in der Internationalen Schiedsgerichtsbarkeit [in der im Zeitpunkt dieser Vereinbarung/dem Beginn des Schiedsverfahrens gültigen Fassung]] [unter Heranziehung der IBA-Regeln zur Beweisaufnahme in der Internationalen Schiedsgerichtsbarkeit [in der im Zeitpunkt dieser Vereinbarung/dem Beginn des Schiedsverfahrens gültigen Fassung] als Richtlinie] anordnen.“ (23)

Die Anwendung der IBA-Beweisregeln kann darüber hinaus auch noch bei Einleitung des Schiedsverfahrens oder zu einem späteren Zeitpunkt vereinbart werden. (24)  Mitunter geschieht das bei der Vereinbarung der in internationalen Schiedsverfahren üblichen sogenannten „Terms of Reference“, in denen die Streitgegenstände definiert und abgegrenzt werden sowie Aspekte des Verfahrensablaufs geregelt werden (näher dazu in Abschnitt D. III.).

Aber selbst in Fällen, in denen keine ausdrückliche Vereinbarung über die Anwendung der IBA-Beweisregeln getroffen wird, kann sich eine Partei zu ihrer großen Überraschung in der Situation sehen, dass die Gegenseite und das Schiedsgericht einhellig und wie selbstverständlich davon ausgehen, dass die Beweisaufnahme nach den IBA-Beweisregeln geführt wird. (25) Denn die Parteien und das Schiedsgericht sind weitgehend frei in der Gestaltung des Verfahrens. (26)  Darüber hinaus hat das Schiedsgericht einen eigenen weitreichenden Ermessensspielraum.(27)  Nichts liegt da näher, als Regeln heranzuziehen, die international akzeptiert sind. (28)

 


- Ende des Auszugs -

Der vollständige Aufsatz „Document Production“ in Bau-Schiedsverfahren" erschien zuerst in der Fachzeitschrift „Baurecht“ (BauR 2015, 1739 - 1747 (Heft 11)). Sie können den Beitrag hier online betrachten und herunterladen.