§ 642 Abs. 1 BGB – Die Quadratur des Kreises?

„Ist bei der Herstellung des Werkes eine Handlung des Bestellers erforderlich, so kann der Unternehmer, wenn der Besteller durch das Unterlassen der Handlung in Verzug der Annahme kommt, eine angemessene Entschädigung verlangen“ – Was zunächst so wunderbar nach Kooperationsgebot und Interessenausgleich klingt, wirft bei genauerem Hinsehen etliche Fragezeichen auf (und damit ist der Blick noch nicht einmal auf den Absatz zwei der Vorschrift und die damit verbundene Diskussion um den Umfang der angemessenen Entschädigung des Unternehmers gerichtet). Diese Fragezeichen soll der folgende Beitrag aufzeigen und klären, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 642 Abs. 1 BGB überhaupt Raum für eine „angemessene Entschädigung“ lassen.

I. Die Entstehungsgeschichte

Die Regelung des heutigen § 642 Abs. 1 BGB war bereits in dem ersten Entwurf des BGB von 1887 vorgesehen, damals allerdings noch in abgespeckter Version als § 575 Satz 1., der da lautete:

„Kommt der Besteller bei dem Beginne oder während der Herstellung des Werkes in Verzug der Annahme, so hat der Übernehmer Anspruch auf eine angemessene Vergütung“.

Den entsprechenden Regelungsbedarf sah die Kommission darin, dass die Bestimmungen des Allgemeinen Schuldrechts nicht ausreichten, um die Interessen der Werkvertragsparteien im Einzelfall praxisgerecht abzubilden. So waren zwar die Fälle der objektiven und der subjektiven Unmöglichkeit bereits durch die Regelungen des § 368 Abs. 1 E 1(heute § 326 Abs. 1 BGB) und § 368 Abs. 2 E 1 (heute § 326 Abs. 2 BGB) abgedeckt, im Fall der nur vorübergehenden subjektiven Behinderung des Bestellers, die gerade nicht zur Unmöglichkeit der Leistung führt, wäre der Unternehmer dem Besteller gegenüber aber auf die Rechte des § 261 E 1(heute § 304 BGB) beschränkt gewesen und hätte nur solche Mehraufwendungen von dem Besteller verlangen können, die er für das erfolglose Angebot sowie für die Aufbewahrung und Erhaltung des geschuldeten Gegenstandes hätte machen müssen. Für den eigentlichen Nachteil, der dem Unternehmer durch das Unterlassen der erforderlichen Mitwirkungshandlung des Bestellers entsteht, nämlich die zeitliche Verschiebung der Ausführung der Werkleistung, gewährt der heutige § 304 BGB dagegen keinen Ersatz. Darin sah die erste Kommission eine „offenbare Unbilligkeit“, die dem Grundprinzip des (verschuldensunabhängigen) Annahmeverzuges widersprochen hätte.

Daneben hielt es die Kommission auch nicht für sachgerecht, die für den Dienstvertrag getroffene Bestimmung des § 561 E 1 (heute § 615 BGB) für den Werkvertrag für anwendbar zu erklären, da letzterer „[…] in den maßgeblichen Beziehungen, namentlich wegen der Unteilbarkeit des Werkes, ganz anders geartet [ist,] wie der Dienstvertrag“.

Vor diesem Hintergrund entschied sich die erste Kommission, im Werkvertragsrecht eine Spezialregelung für den Fall der vorübergehenden subjektiven Behinderung des Bestellers vorzusehen. Die eingangs zitierte Formulierung des ersten Entwurfs wurde im Laufe der Sitzungen der zweiten Kommission in den heutigen Wortlaut geändert, um deutlich zu machen, dass es bei der Regelung um einen Zeitverlust geht, für den der Unternehmer eine angemessene Vergütung erhalten soll.

II. Die Tatbestandsvoraussetzungen

Ein Anspruch auf angemessene Entschädigung setzt nach der seit dem Inkrafttreten des BGB unveränderten Regelung des § 642 BGB „[…] nur voraus, dass der Besteller durch das Unterlassen einer Handlung, die bei der Herstellung des Werkes erforderlich ist, in Annahmeverzug gerät“. In Annahmeverzug gerät der Besteller gem. § 293 BGB dann, wenn er die ihm angebotene Leistung nicht annimmt, der Schuldner leisten darf, zur Leistung bereit und imstande ist (§ 297 BGB) und die Leistung dem Gläubiger wie geschuldet anbietet.

Hierzu im Einzelnen:

1. Unterlassen einer Handlung, die bei der Herstellung des Werkes erforderlich ist

Voraussetzung des § 642 Abs. 1 BGB ist zunächst, dass der Besteller eine bei der Herstellung des Werkes erforderliche Handlung unterlässt. Mit anderen Worten: § 642 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass die Herstellung des Werkes bereits möglich, aber noch nicht abgeschlossen ist. Die Leistungspflicht des Unternehmers muss also schon oder noch fällig sein, das Werk darf aber noch nicht vertragsmäßig hergestellt sein i.S.d. § 640 Abs. 1 Satz 1 BGB.

Anders als bei § 631 Abs. 1 BGB („[…] wird […] der Besteller zur Entrichtung der vereinbarten Vergütung verpflichtet“) oder § 640 Abs. 1 BGB („Der Besteller ist verpflichtet, das vertragsmäßig hergestellte Werk abzunehmen“) spricht § 642 Abs. 1 BGB nur von einer bei der Herstellung des Werkes erforderlichen Handlung. Die Mitwirkungshandlung kann also eine Vertragspflicht des Bestellers darstellen, es kann sich insoweit aber auch um eine bloße Obliegenheit des Bestellers handeln. Die erste Kommission wies dementsprechend darauf hin, dass für den Fall, dass der Besteller dem Unternehmer gegenüber als Schuldner verpflichtet ist, in der erforderlichen Weise bei der Ausführung des Werkes mitzuwirken und der Besteller diese Pflicht schuldhaft nicht erfüllt, auch ein Gläubigerverzug des Bestellers vorliegen kann.

 


- Ende des Auszugs -

Der vollständige Aufsatz „§ 642 Abs. 1 BGB – Die Quadratur des Kreises?" von Julia Gerhardtler erschien zuerst in der Fachzeitschrift „Baurecht“ (BauR 2023, 1577 - 1583, Heft 10)Sie können den Beitrag hier online betrachten und herunterladen.