„Solange reden, bis der Letzte aufgibt“

Daan Timmerman ist Baurechtsanwalt in den Niederlanden und seit 2015 Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Bau- und Immobilienrecht. Wir sprachen mit ihm über die Besonderheiten des niederländischen Baurechts – und sind dabei sehr schnell auf die kulturellen Unterschiede der beiden Nachbarländer gestoßen. Im Interview erläutert der Kollege Timmerman unter anderem, welche Rolle Angemessenheit und Fairness im niederländischen Gesetz spielen, wie aus einem höchstrichterlichen Urteil ein Verb wurde und was sich hinter dem schönen Begriff „polderen“ verbirgt.

Herr Timmerman, wenn Sie an das Baurecht denken: Was sind die größten Unterschiede zwischen den Niederlanden und Deutschland?

Ich sitze zwar immer artig in den Baurechtstagungen und passe auch auf (lacht). Dennoch bestimmt vor allem das niederländische Baurecht meinen Alltag als Jurist. Somit kann ich die Frage auch nur aus dieser Richtung beantworten. Was mir da als Erstes einfällt ist die Schiedsgerichtsbarkeit, die in Holland sehr viel geläufiger zu sein scheint, als in Deutschland. Seit 1907 gibt es hier ein Schiedsgericht für Bausachen. Um die fachliche Qualität zu gewährleisten, sitzt neben einem Juristen immer auch ein Techniker im Schiedsgericht, und zwar einer, der in dem Fachbereich zuhause ist, der gerade verhandelt wird. Damit dürfte die Qualität einer Entscheidung deutlich über der eines normalen Gerichts liegen. Ein großer Vorteil.

Fallen Ihnen noch weitere Unterschiede ein?

Ja auf jeden Fall. Ich denke da an unsere ‚Redelijkheid en Billijkheid‘, also Redlichkeit und Billigkeit, man könnte auch sagen: Angemessenheit und Fairness. Beides ist im niederländischen Gesetz verankert und spielt in der Rechtskultur eine große Rolle. Für Verträge bedeutet das, dass die darin vereinbarten Regelungen angemessen und fair vereinbart sein müssen.  Was das letztlich genau heißt, muss im Zweifel ein Gericht entscheiden.

Das klingt erst einmal etwas schwammig und ungenau. Wie können wir uns die praktische Umsetzsetzung vorstellen?

Die betreffende Stelle im Gesetzt lautet auf Deutsch in etwa so:

‚Eine vertragliche Regel gilt nicht, wenn diese in den herrschenden Umständen nach Maßstäben von Angemessenheit und Fairness inakzeptabel wäre.‘

Was das heißt, zeigt folgendes Beispiel, das zwar nichts mit Baurecht zu tun hat, den Punkt aber gut illustriert. Eine Firma hatte von den Stadtwerken Strom bezogen und jedes Jahr eine Abrechnung erhalten und bezahlt. Durch einen Verwaltungsfehler (kein Messfehler) hatte die Stadt jedoch 14 Jahre lang nur 1/6 des Verbrauchs in Rechnung gestellt. Laut AGB durfte die Stadt unter Umständen 24 Monate rückwirkend Nachzahlung verlangen. Der Hoge Raad wies die Forderung zurück weil nach Maßstab von Angemessenheit und Fairness nicht zumutbar wäre dass die Firma nicht darauf vertrauen darf, dass die erhaltenen Jahresabrechnungen einen definitiven Charakter hatten.

Beim Blick in die juristischen Gepflogenheiten bei Ihnen ist uns das Verb „haviltexen“ begegnet. Was verbirgt sich dahinter?

Es gibt eine Entscheidung unseres höchsten Gerichts, der Hoge Raad. von 1981, die in den 40 Jahren danach in der Rechtsprechung immer wieder wiederholt und bestätigt wurde. Mit diesem sogenannten Haviltex-Urteil entschied das Gericht, dass die Frage nach dem Inhalt eines Vertrags nicht allein anhand der rein sprachlichen Bedeutung der Vertragsbedingungen gelöst werden kann. Vielmehr kommt es auch auf die Bedeutung der Bestimmungen an und wie sie die Parteien unter den herrschenden Umständen zu verstehen in der Lage sind. Dabei spielt zum Beispiel auch eine Rolle, welche juristischen Kenntnisse von den Parteien erwartet werden kann. Im Streitfall zählt also nicht nur der Wortlaut eines Vertrags, sondern auch die Frage: Was hat die eine Partei gemeint und was hat die andere verstanden? Unter Umständen müssen wir Juristen hierzulande also ‚haviltexen‘.

Dem Vernehmen nach verschwinden Verträge in den Niederlanden nach Abschluss gerne in der Schublade und es wir einfach „drauf los gebaut“. Stimmt das? Wie können wir uns das vorstellen?

Das kam durchaus vor, obwohl es sich in den letzten Jahren deutlich gebessert hat. Nehmen wir einen Bauunternehmer als Auftragnehmer. Der setzt genau das um, was er denkt, das gewünscht ist. Dabei sucht er oft nach praktischen Lösungen für Probleme, die während der Bauphase auftreten. Diese löst er dann angemessen und fair – und entfernt sich dabei möglicherweise von dem, was der Auftraggeber bestellt hat. In der Folge kommt es dann regelmäßig zum Streit.


Amsterdam ist immer eine Reise wert!

Die 59. Baurechtstagung findet am 4. und 5. März 2022 in Amsterdam statt. Unter anderem geht es um die einstweilige Verfügung im Eilverfahren aus niederländischer und deutscher Sicht. Hier finden Sie weitere Details zur Frühjahrstagung 2022.


Bauzeitverzögerungen, Mehrkosten, Mängel und Nachträge führen in Deutschland immer wieder zu Problemen auf der Baustelle. Welche Bauablaufstörungen sind typisch bei Ihnen?

Die genannten Dinge kennen wir natürlich auch. Aber ich will einige typisch holländischen Probleme nennen. Wir haben einen sehr sumpfigen Boden. Große Bauwerke müssen regelmäßig mit 20 bis 30 langen Betonpfählen gegründet werden. Dabei tauchen oft Probleme auf. Ein anderes Thema ist Stickstoff. Davon ist hier zu viel in der Luft und die Regierung hat enge Grenzen gesetzt, auch für die Baubranche. Bauprojekte dürfen nur eine bestimmte Menge Stickstoff verursachen, was in der Praxis nicht immer leicht einzuhalten ist. Ein anderes Problem sind Perfluoralkylchemikalien, kurz: PFAS. Davon gibt es in Holland viel zu viel, vor allem auch im Boden. Das führt dazu, dass diese Böden nicht bewegt werden dürfen, da dadurch PFAS freigesetzt wird. Eine Reinigung ist schwierig und kostspielig. Das ist für ein Bauvorhaben natürlich ein Super-GAU. Diese Rahmenbedingungen führen zu Verzögerungen und in der Folge zu Streitigkeiten.

Baustreitigkeiten können in Deutschland sehr lange dauern. Mehrere Jahre sind normal, ein Jahrzehnt ist möglich. Wie ist das bei Ihnen?

Meistens versuchen die Parteien sich außergerichtlich zu einigen. Das schon erwähnte Schiedsgericht für Bausachen kommt dann ins Spiel, das meist schnell, auf jeden Fall innerhalb eines Jahres Entscheidungen herbeiführt.

Aber natürlich haben wir auch streitige Verfahren, die drei, vier oder fünf Jahre dauern können. Ich kenne aber keinen Fall, der zehn Jahre gebraucht hat.

Neben diesen juristischen Aspekten gibt es doch sicher auch einige kulturelle Unterschiede, oder?

Da denke ich vor allem an unser ‚polderen‘. In Deutschland wird nach meinem Empfinden Vieles auf Hierarchie-Ebene entschieden. Wenn etwa der Auftraggeber zum Auftragnehmer sagt: So wird es gemacht. In Holland ist das anders, da wird erst einmal darüber gesprochen. Das hat mit unserer Kultur zu tun. Das Verb ‚polderen‘ kommt vom Substantiv ‚Polder‘. Der Begriff bezeichnet eingedeichtes Land. Wann immer ein Stück Land durch einen Deich geschützt werden sollte, gab es immer viele Beteiligte und Betroffene, die zustimmen mussten. Die haben sich dann solange ausgetauscht, bis alle einverstanden waren. Heute ist das Teil unseres Selbstverständnisses in den Niederlanden. Ein deutscher Bauunternehmer, mit dem ich zu tun hatte, hat es so formuliert: ‚Polderen ist gut! Die reden solange, bis der Letzte aufgibt. (lacht)

 

Rechtsanwalt Daan Timmerman

  • Fachanwalt für Bau- und Immobilienrecht
  • Fachanwalt für Vertrags- und Verfahrensrecht
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