Mindestsätze der HOAI 1996/2002 unterschritten: Honorar muss "aufgestockt" werden!

OLG Düsseldorf, Urteil vom 24.06.2021 - 5 U 222/19 AEUV Art. 49, 56; HOAI 1996/2002 § 4 Abs.1

1. Begehrt ein Architekt in Abkehr vom vereinbarten Pauschalhonorar die Aufstockung seiner Vergütung auf der Basis der Mindestsätze, ist § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 anwendbar.*)
2. Diese Regelung verstößt nicht gegen Art. 15 Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt (nachfolgend: Dienstleistungsrichtlinie), denn als die Umsetzungsfrist der Dienstleistungsrichtlinie am 28.12.2009 endete, war die HOAI 1996/2002 bereits durch die HOAI 2009 abgelöst.*)
3. Der Geltung des § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 steht vorliegend auch nicht das europäische Primärrecht in Form der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) oder der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) entgegen.*)
4. Ein grenzüberschreitender Bezug ist hier nicht gegeben, weil beide Parteien Inländer sind, das Bauprojekt nicht öffentlich ausgeschrieben war und kein solches Ausmaß oder Prestige aufwies, dass es eine grenzüberschreitende Attraktivität gezeigt hätte.*)
5. Stellt ein ausländischer Architekt fest, dass er sich einerseits mit günstigen Angeboten den Zugang zum deutschen Markt erschließen und andererseits "im Notfall" doch auf ein Mindesthonorar zugreifen kann, hat dies keine Wirkung, die den Markteintritt behindert.*)
6. Im Hinblick darauf, dass die HOAI 1996/2002 nicht mehr in Kraft ist, ist nicht ersichtlich, inwieweit Sachverhalte und Entscheidungen hierzu die Entscheidung beeinflussen können, ob sich ein Architekt aktuell in Deutschland niederlässt oder hier seine Dienstleistung erbringt.*)

OLG Düsseldorf, Urteil vom 24.06.2021 - 5 U 222/19

AEUV Art. 49, 56; HOAI 1996/2002 § 4 Abs.1

Problem/Sachverhalt

Abweichend vom in einer Vereinbarung vom Dezember 2008 vorgesehenen Pauschalhonorar für die Leistungsphase 5 und AZ-Abrechnung von 94% der Pauschale im November 2009 beansprucht der Tragwerksplaner mit Schlussrechnung vom 01.03.2016 ein höheres Honorar, ermittelt anhand der Mindestsätze der HOAI 1996/2002.

Entscheidung

Das OLG hebt das Urteil des Landgerichts, mit dem die Klage wegen Verwirkung abgewiesen worden ist, auf und spricht das Mindestsatzhonorar zu. Verwirkung komme bei einem sachkundigen Auftraggeber nicht in Betracht, wenn die Schlussrechnung noch nicht gestellt sei. Er dürfe aufgrund der Kenntnis von der HOAI auch nicht auf die Bindung an eine unwirksame, gegen den Mindestsatz verstoßende Honorarvereinbarung vertrauen. Ein Verstoß des § 4 HOAI 1996/2002 gegen europarechtliches Primär- und Sekundärrecht liege aufgrund der in den Leitsätzen wiedergegebenen Gründe nicht vor.

Praxishinweis

Leitsätze 1 und 2 entsprechen dem Hinweisbeschluss des OLG Celle (IBR 2021, 83). Sowohl dort als auch hier wurde im Hinblick auf den Zeitpunkt des Verstoßes gegen die Dienstleistungsrichtlinie maßgeblich auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses im Verhältnis zum Ablauf der Umsetzungsfrist und nicht auf den der mündlichen Verhandlung abgestellt. Eine weitergehende europarechtliche Klärung wird aufgrund der Vorlage des BGH an den EuGH zur HOAI 2013 (IBR 2020, 352) erfolgen, wobei eine Tendenz den bereits vorliegenden Schlussanträgen des Generalanwalts (vom 14.07.2021 - Rs. C-261/20, ibr-online-Werkstatt) entnommen werden kann. Die Ausführungen zur Verwirkung und Bindungswirkung liegen auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung.

RA und FA für Bau- und Architektenrecht Dr. Alexander Zahn, Reutlingen

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