Baurecht vor Erschließungsbeitragsrecht!

OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.05.2020 - 15 A 2995/18 BauGB § 1a Abs. 3, § 9 Abs. 1a Satz 2, § 127 Abs. 2 Nr. 4, § 135a

1. Die Kostenerstattung nach § 135a Abs. 2 bis 4 BauGB ist gegenüber den erschließungsbeitragsrechtlichen Vorschriften spezieller und damit vorrangig.*)

2. Der den Gemeinden in § 9 Abs. 1a Satz 2 BauGB eingeräumte Entscheidungsspielraum bei der Zuordnung von Ausgleichsmaßnahmen nach § 1a Abs. 3 BauGB rechtfertigt nicht eine Durchbrechung des in § 135a Abs. 1 BauGB zum Ausdruck kommenden Verursacherprinzips zu Lasten von Erschließungsbeitragspflichtigen. Die Gemeinde hat hier nicht die Wahl, ob sie den entstandenen Aufwand gegenüber den Vorhabenträgern bzw. Eigentümern nach § 135a Abs. 3 BauGB oder - durch Unterlassen einer Zuordnung - gegenüber den Erschließungsbeitragspflichtigen geltend macht.*)

OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.05.2020 - 15 A 2995/18

BauGB § 1a Abs. 3, § 9 Abs. 1a Satz 2, § 127 Abs. 2 Nr. 4, § 135a

Problem/Sachverhalt

Ein Immobilienbesitzer errichtete vor geraumer Zeit auf der Basis eines Erbbaurechts ein mehrgeschossiges Wohnhaus. In der Nachbarschaft errichtet eine Kommune die öffentliche Grünanlage "B. Mitte". Die Parkanlage mit Spielflächen wurde mittels Bebauungsplan festgesetzt. Die Grünanlage ist Teil eines umfänglichen Grünordnungskonzepts, das eine Reihe von Grünanlagen nebst Naherholungsgebiet umfasst. Für die Kosten des Endausbaus der Grünanlage zieht die Kommune den Immobilienbesitzer mittels Vorausleistungsbescheid heran.

Entscheidung

Das OVG stellt fest, dass es für den Vorausleistungsbescheid keine Rechtsgrundlage gibt. Die Erhebung eines Erschließungsbeitrags nach § 127 ff. BauGB ist wegen § 135 Abs. 2 bis 4 BauGB ausgeschlossen. Demnach besteht grundsätzlich ein Kostenerstattungsanspruch zur Deckung des Aufwands für Ausgleichsmaßnahmen einschließlich der Bereitstellung der dafür erforderlichen Flächen. Der Anspruch entsteht mit Herstellung der Ausgleichsmaßnahme. Diese Regelung geht dem Erschließungsbeitragsrecht wegen Spezialität vor. Die Regelung folgt - anders als das Erschließungsbeitragsrecht - dem Verursacherprinzip; Vorhabenträger sind verpflichtet, durch ihr Vorhaben erforderliche Ausgleichsmaßnahmen selbst durchzuführen. Der Vorrang ergibt sich daraus, dass die Ausgleichsmaßnahme dem Verursacherprinzip entsprechend von den Grundstückseigentümern finanziert werden soll, denen sich durch die Ausgleichsmaßnahme überhaupt erst die Bebauungsmöglichkeit eröffnet. Auch wenn die Kommune die Durchführung übernimmt, ändert dies am grundlegenden Prinzip nichts. Zwar hängt das Bestehen des Kostenerstattungsanspruchs gem. § 135a Abs. 2 bis 4 BauGB konstitutiv von der Zuordnung von Ausgleichsmaßnahmen zu - bestimmten - Eingriffsflächen durch Festsetzung im Bebauungsplan gem. § 9 Abs. 1a BauGB ab. Davon zu unterscheiden ist jedoch die - systematisch vorgelagerte - Festlegung des Rangverhältnisses von § 135a Abs. 2 bis 4 BauGB zu den §§ 127 ff. BauGB, das sich bereits nach dem Anwendungsbereich des jeweiligen Rechtsregimes richtet. Dieser bemisst sich nicht nach der Zuordnungsentscheidung der Gemeinde im Bebauungsplan bzw. deren Unterbleiben, sondern danach, ob die Grünflächenfestsetzung nach dem planerischen Willen der Gemeinde eine naturschutzrechtliche Ausgleichsmaßnahme darstellt oder nicht. Findet ein Ausgleich für naturschutzrechtliche Eingriffe auf einer öffentlichen Grünfläche, aber keine Zuordnung dieser Ausgleichsmaßnahme zu Eingriffsgrundstücken durch Bebauungsplanfestsetzung gem. § 9 Abs. 1a BauGB statt, ändert dies daher nichts daran, dass die Kostenerstattung für die Herstellung der Grünfläche dem Erschließungsbeitragsrecht entzogen ist.

Praxishinweis

Kommunen haben Vorsicht walten zu lassen, bei wem, wie und bis wann sie Kostenerstattungs- bzw. Abgabenansprüche gelten machen müssen. Wird eine falsche Rechtsgrundlage gewählt, ist bis zum Ende des streitigen Verfahrens meist die Verjährung der Ansprüche nach zutreffender Rechtsgrundlage eingetreten; infolge bleiben die Kommunen auf ihren Kosten sitzen, was auch politisch schwer "zu verdauen" ist.

RA und FA für Bau- und Architektenrecht, FA für Verwaltungsrecht, FA für Vergaberecht Dr. Till Kemper, M.A., Frankfurt a.M.

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