Grundsätzlich muss ein Grundstückseigentümer nicht dulden, dass Abstandsflächen benachbarter Gebäude die Grundstücksgrenze überschreiten. Bei der Geltendmachung und Verjährung sind öffentlich-rechtliche und zivilrechtliche Vorschriften im Zusammenhang zu sehen.
Ausgangssituation:
Das Interesse eines Grundstückseigentümers ist häufig, sein Grundstück zur Bebauung weitestgehend auszunutzen, sei es als Investor zur Schaffung maximaler vermietbarer Flächen, oder als Bewohner zur Ausnutzung in Richtung zumindest einer Grundstücksgrenze. Meist wird dann in der Planung die berechnete Abstandsfläche bis zur maximalen Ausnutzung an die Grundstücksgrenze herangeführt. Wird der Baukörper dann so verwirklicht, dass er der Abstandsflächenberechnung nicht entspricht, beispielsweise wegen Vermessungsfehlern oder Einmessungsfehler vor Ort und liegt die tatsächliche Abstandsfläche dann nicht mehr auf dem eigenen Baugrundstück, so kann der Nachbar die teilweise Beseitigung verlangen.
Beispiel:
(Nach OLG Bamberg, Urteil vom 04.12.2012 - 5 U 29/12)
Ein Bauherr hatte bereits im Bauantrag für einen Anbau angegeben, dass er die Abstandsfläche nicht ganz einhalten werde und hierfür eine Befreiung beantragt. Sowohl die Baugenehmigung als auch die Befreiung wurde von der Baugenehmigungsbehörde erteilt. Allerdings hat der Nachbar Drittwiderspruch gegen die Baugenehmigung eingelegt, der letztlich im Klagewege erfolg hatte. Die Baugenehmigung wurde daher aufgehoben. Das öffentlich-rechtliche Verfahren dauerte über 3 Jahre bis zur Rechtskraft. Gemäß § 212a BauGB hatte der Widerspruch während dieser Zeit keine aufschiebende Wirkung, sodass der Bauherr gleichwohl seinen Bau fertig stellen konnte. Zur Erschließung und zum Betrieb der Baustelle war auch die Nutzung des Nachbargrundstücks des widersprechenden Nachbarn notwendig, wogegen sich dieser zunächst mit einstweiligen Verfahren wendete, die allerdings im Vergleichswege beendet werden konnten. Der Vergleich gestattete dem Bauherrn die zeitweise Benutzung des Nachbargrundstücks für die Durchführung der Bauarbeiten. Das Verfahren nach dem Drittwiderspruch wurde jedoch nicht in den Vergleich einbezogen.
Nach Aufhebung der Baugenehmigung klage der Nachbar vor den Zivilgerichten auf Beseitigung der Beeinträchtigung seines Grundstücks in Gestalt der hierauf liegenden Abstandsfläche des geschaffenen Anbaus gemäß § 1004 BGB analog und gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Schutzgesetz bestehend aus der landesrechtlichen Abstandsflächenregelung und bekam Recht. Der Bauherr wurde verurteilt, das von ihm auf der Grundlage der mittlerweile aufgehobenen Baugenehmigung errichtete Bauwerk so zu ändern, dass die Vorschriften über Abstandsflächen eingehalten werden.
Die Verjährungseinrede des Bauherrn hatte keinen Erfolg. Zwar wäre die Verjährung eingetreten, wenn Sie von der Kenntnis des Beginns der Bauarbeiten bis zur Klageerhebung zu berechnen wäre, der Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Schutzgesetz aus der Landesbauordnung ist jedoch erst entstanden, nachdem die Baugenehmigung rechtskräftig aufgehoben worden ist. Denn solange sie bestanden hat, stand fest, dass der Bauherr nicht gegen das Schutzgesetz verstoßen hat. Mit Bezug auch die Rechtsprechung des BGH dient die öffentlich-rechtliche Bauvorschrift dem Schutz des Nachbarn nur unter dem Vorbehalt einer nach öffentlichem Recht wirksamen Befreiung.
Hinweis:
Das Gericht prüfte neben der Verjährung auch den Einwand der „Unmöglichkeit“ gemäß § 275 Abs. 2 BGB. Hierzu war eine Abwägung der jeweiligen Interessen der Parteien anzustellen, die im entschiedenen Einzelfall zu Gunsten des Nachbarn ausging. Außerdem prüfte das Gericht die Voraussetzungen des § 912 zur Duldungspflicht eines Überbaus, wobei es anzweifelte, dass diese Vorschrift den Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB einschränken kann. Hierauf soll besonders hingewiesen werden, weil eine alleinige Geltendmachung der zivilrechtlichen Regelungen etwa gem. § 1004 BGB analog ohne den Bezug zum Schutzgesetz des öffentlichen Rechts ggf. zu anderen Ergebnissen hätte führen können.
Interessant ist außerdem der zwischen den Parteien abgeschlossene Vergleich. Dieser war hinsichtlich seines Inhalts und Umfangs wie jeder Vertrag gemäß § 133, 157 BGB auszulegen. Eine Zustimmung zur Nichteinhaltung der Abstandsfläche konnte ihm aber nicht entnommen werden, da es hierin einerseits um den Betrieb der Baustelle ging und andererseits das Verfahren nach dem Drittwiderspruch fortgeführt wurde. Je nach Formulierung hätte das Auslegungsergebnis jedoch auch anders aussehen können, weshalb bei Streitigkeiten mit mehreren Aspekten besonders auf die Deutlichkeit des Vergleichsinhalts zu achten ist. Dem Urteil lässt sich nicht entnehmen, ob allein der Bauherr den Vergleich umfassend dahingehend missverstanden hatte, „er dürfe bauen“ und deshalb seinen Bau überhaupt fortgesetzt hatte.
Viele Bundesländer, wenn auch nicht alle, regeln zudem ausdrücklich, dass wenn es sich allein um eine energetische Sanierung handelt, die Abstandsflächen von Bestandsbaukörpern sich anders verhalten und ein vermeintlicher Verstoß nicht besteht.
Rechtsanwalt Johannes Jochem
RJ Anwälte, Wiesbaden