Die Initiative zu den gesetzlichen Preisbildungsregeln war getragen von einem Streben weg von der linearen Preisfortschreibung nach dem klassischen Verständnis der Korbion’schen Preisformel, mit der das Vertragspreisniveau (Kapellmann/Schiffers) des alten Preises im neuen Preis je nach Preisqualität gewinn- bzw. verlustvergrößernd linear fortgeschrieben wird. Der Gesetzgeber wollte damit insbesondere den in der Bauwirtschaft verbreiteten verdeckten Preismanipulationen entgegenwirken. Der linearen Preisfortschreibung sollte an sich ein Ende gesetzt werden. Tatsächlich ist lineare Preisfortschreibung über § 650c Abs. 2 BGB nach wie vor präsent. Denn mit der Vermutung in § 650c Abs. 2 Satz 2 BGB darf der Unternehmer (im Weiteren Auftragnehmer) weiter an die Urkalkulation anknüpfen. Er darf anknüpfen an einen für verdeckte Preismanipulationen empfänglichen Raum. So wird der zu befürwortende Zweck der Neuregelung, nämlich „Spekulation einzudämmen“ und zu einer „korrekten Ausschreibung“ anzuhalten, konterkariert, lautet die zutreffende Wertung von Lindner. Durch die gesetzliche Vermutung der Maßgeblichkeit einer hinterlegten Urkalkulation werde geradezu dazu aufgerufen, solche Urkalkulationen im Hinblick auf zu erwartende Änderungen auszugestalten, so Lindner weiter.
Unter anderem die §§ 650b BGB und 650c Abs. 1, 2 BGB im neuen Bauvertragsrecht sollen im Jahr 2023 evaluiert werden. Dazu wird die Bundesregierung im Wege einer rechtstatsächlichen Untersuchung prüfen, ob die Anpassung des Rechts an die speziellen Bedürfnisse des Bauvertrags ganz, teilweise oder nicht erreicht worden sind. Die Untersuchung wird die Frage nach unbeabsichtigten Nebenwirkungen sowie nach der Akzeptanz der Regelungen einschließen.
I. Wie das Gesetz zu „tatsächlich erforderlichen Kosten“ kam – in die Geschichte der Zweifel an der linearen Preisfortschreibung zurückgegangen
Im ersten Jahrzehnt des laufenden Jahrhunderts erreichten die Zivilgerichte Fälle mit hohen und höchsten Einheitspreisen, die weit außerhalb des der Leistung Angemessenen lagen. Das von Literatur und Rechtsprechung bis dahin wie ein Dogma aufgenommene Prinzip von der Entwicklung des Nachtragspreises aus dem Urpreis unter Beibehaltung des Kostendeckungsniveaus (lineare Preisfortschreibung) wurde zunehmend hinterfragt, dies insbesondere auch, weil die Anfälligkeit der Ur-/Auftragskalkulation für Preismanipulationen in Verbindung mit diesem Prinzip die Runde machte. Es begann die Suche nach einer zur Korbion’schen Preisformel alternativen Preisbildungsmethode für Nachtragspreise zu angeordneten/geforderten BauSoll-Modifikationen (§ 1 Abs. 3, 4 VOB/B). In der Literatur versammelte sich Widerstand gegen die lineare Preisfortschreibung: Wurden die – teils unklaren und widersprüchlichen – Vergütungsregeln aus § 2 Abs. 5, 6 VOB/B mit der Korbion’schen Preisformel zutreffend ausgelegt? Ist linear fortzuschreiben oder ist der neue an den alten Preis anzubinden, indem das „Geschäft“ des alten Preises (Gewinn oder Verlust im alten Preis) als Absolutbetrag in den neuen Preis übernommen wird, um sodann den Mehr- oder Minderaufwand der Änderung im neuen Preis mit den erforderlichen tatsächlichen Kosten anzusetzen? Die VOB/B selbst lässt – entgegen der allgemeinen Ansicht von der linearen Preisfortschreibung – offen, in welcher Weise die ursprüngliche Preisermittlung in die Nachtragsberechnung einfließen soll.
Abstrakt fordert Leitzke für die Preisbildung unter § 2 Abs. 5, 6 VOB/B zu Recht die Wahrung der vereinbarten Äquivalenz. Welch massive Verschiebungen des ursprünglichen Äquivalenzverhältnisses sich bei linearer Preisfortschreibung ergeben können, zeigen nicht nur die Fälle spekulativer und mit dem Ziel einer gewissen nachträglichen Ergebnisoptimierung manipulierenden Preisgestaltungen. Dass das Äquivalenzverhältnis ihrer wechselseitigen Vertragspflichten, welches die Vertragspartner mit dem Hauptvertrag gefunden haben, durch die lineare Preisfortschreibung erhalten bleibt, ist selbst bei der Abrechnung mit vom Verdacht manipulierter Preisgestaltung freien Vertragspreisen nicht zwangsläufig. So kann eine Leistungsposition mit überdurchschnittlich hohem Gewinn von der Änderung betroffen sein. Dann wird sich im Gesamtpreis das ursprüngliche Gewinn-Preis-Verhältnis erhöhen und der Auftragnehmer wird durch die angeordnete Änderung besser als ohne sie stehen. Die spekulativen Preisgestaltungen geben dafür nur extreme Beispiele.
Bei der Suche nach Auswegen ist eine Lösungsidee von Vygen früh stark geworden, die dieser aus einer gewissen Not heraus in einem Schiedsgerichtsverfahren in Anbetracht eines außergewöhnlich hohen Vergabegewinns in 2006 „geboren“ hatte. Der Auftraggeber hatte sich in dem Verfahren, dem Vygen vorstand, damit schwergetan, den neuen Preis einer geänderten Leistung aus dem alten, „überaus guten“ Preis im Wege der linearen Preisfortschreibung unter Beibehaltung des Vertragspreisniveaus entwickeln zu lassen. Mit der Idee Vygens wurde eine Tendenz wahrnehmbar weg von der linearen Preisfortschreibung nach dem Korbion’schen linear funktionierenden Muster, hin zur Neupreisbildung bei Festhalten des internen Verlustes/Gewinns als Absolutbetrag aus dem alten Preis und Darlegung der tatsächlichen Kosten des Mehr- oder Minderaufwands der Änderung. Der Auftragnehmer sollte damit wirtschaftlich so gestellt werden, wie er ohne das Nachtragsereignis gestanden hätte. Heute sind das die Prinzipien der AbsolutbetragsFortschreibung (Vygen) für die Vergütungsfolge einer Anordnung nach § 650b Abs. 2 BGB, der Preisbildungsmechanismen nach § 650c Abs. 1, 2 BGB; näher → II.1.
- Ende des Auszugs -
Der vollständige Aufsatz „Ambivalenz in § 650c Abs. 1, 2 BGB, oder: Vom beabsichtigten Fesseln und dann doch Entfesseln der Gewinn- bzw. Verlustgröße des alten Preises – ein Beitrag zur anstehenden Evaluation " von Dr. Matthias Drittler erschien zuerst in der Fachzeitschrift „Baurecht“ (BauR 2023, 1871 - 1877, Heft 11). Sie können den Beitrag hier online betrachten und herunterladen.