
I. Ausgangslage
Der vertraglich geschuldete Erfolg bestimmt sich aber nicht allein nach der zu seiner Erreichung vereinbarten Leistung oder Ausführungsart, sondern zusätzlich danach, welche Funktion das Werk nach dem Willen der Vertragsparteien erfüllen soll. Das gilt unabhängig davon, ob die Vertragsparteien eine bestimmte Ausführungsart vereinbart haben oder die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten worden sind. Ist die Funktionstauglichkeit für den vertraglich vorausgesetzten oder gewöhnlichen Gebrauch vereinbart und ist dieser Erfolg mit der vertraglich vereinbarten Leistung oder Ausführungsart oder den allgemein anerkannten Regeln der Technik nicht zu erreichen, schuldet der Unternehmer gleichwohl die vereinbarte Funktionstauglichkeit.
Unabhängig vom Vertragstext und den sonstigen Umständen des Vertragsschlusses kann der Besteller eines Bauwerks stets erwarten, dass der Unternehmer die allgemein anerkannten Regeln der Technik einhält. Für diese Erwartung ist nicht der Zeitpunkt des Vertragsschlusses, sondern der der Abnahme maßgeblich. Der Unternehmer schuldet also grundsätzlich als (konkludent) vereinbarte Beschaffenheit die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik zum Zeitpunkt der Abnahme, und zwar unabhängig davon, ob diese bei Vertragsschluss bekannt waren oder bekannt sein konnten.
Haben die Vertragsparteien keine bestimmte Ausführungsart vereinbart, richtet sich die Frage zur Beschaffenheit des Werks nach den Gesamtumständen und den allgemein anerkannten Regeln der Technik. Entspricht das versprochene Bauwerk nicht dem üblichen Qualitäts- und Komfortstandard, kann der Besteller auch ohne nähere Leistungsbeschreibung die Ausführung des Gesamtwerks in diesem Standard verlangen.
Ist die VOB/B in das Vertragsverhältnis einbezogen, schuldet der Unternehmer bzw. der dort genannte Auftragnehmer nach § 13 Abs. 1 ohnehin die Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik zur Zeit der Abnahme. Diese Regelung betont die Bedeutung der technischen Standards für die Beurteilung, ob eine Werkleistung mangelhaft ist oder nicht. Diese Standards entwickeln sich allerdings fortlaufend weiter, sodass bei längerfristigen Werkverträgen die allgemein anerkannten Regeln der Technik zum Zeitpunkt der Abnahme entscheidend sind. Sobald sich die anerkannten Regeln der Technik ändern, stellt sich im Stadium vor Abnahme die Frage nach einer Änderung des geschuldeten Leistungsumfangs und im Stadium nach Abnahme die Frage nach einer Mängelbeseitigungspflicht des Unternehmers.
II. Gegenstand der Untersuchung
Gegenstand dieser Untersuchung ist, ob und welche Ansprüche entstehen, wenn sich die anerkannten Regeln der Technik nach der Abnahme geändert haben.
Ein anschaulicher Sachverhalt dazu lag einer Entscheidung des OLG Frankfurt zugrunde. Ein Unternehmer errichtete im Wohnhaus des Bauherrn eine gewendelte Stahlwangentreppe mit hölzernen Trittstufen. Die unterste Trittstufe war 6 mm niedriger als die bei der Abnahme einschlägigen DIN-Normen es zuließen. Die Mängelbeseitigungsaufforderung des Bestellers lehnte der Unternehmer aus Kostengründen ab, denn zur Mangelbeseitigung hätte die Treppe insgesamt erneuert werden müssen. Abgesehen davon hatte sich die einschlägige DIN-Norm 18065:2015-03 Ziffer 7.4 nach der Abnahme geändert. Nach der Neufassung wäre die Höhenabweichung nicht (mehr) zu beanstanden.
Alle Sachverhalte, in denen sich anerkannte Regeln der Technik, DIN-Normen oder technische Richtlinien nach der Abnahme geändert haben, haben gemein, dass zum Zeitpunkt der Abnahme (noch) ein Mangel vorlag, die Leistungen nach der Abnahme aber den nun geänderten anerkannten Regeln entsprechen.
1. Mängel zum Zeitpunkt der Abnahme
Fraglich ist zunächst, zu welchem Zeitpunkt ein (Bau-)Werk als mangelhaft zu bewerten ist und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um Mängelansprüche geltend machen zu können. Die Beurteilung, ob ein Werk mangelhaft ist, hängt grundsätzlich von dem Zustand des Werks zum Zeitpunkt der Abnahme ab. Dies ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des BGH, wonach die Abnahme als entscheidender Zeitpunkt für die Feststellung eines Mangels betrachtet wird. Es ist allerdings zu differenzieren, ob der Mangel bereits zum Zeitpunkt der Abnahme „angelegt“ war, auch wenn er sich erst später zeigt, oder ob er erst nach der Abnahme entstanden ist.
Der Unternehmer trägt jedenfalls die Verantwortung dafür, dass das Werk zum Zeitpunkt der Abnahme den vertraglichen Anforderungen entspricht und frei von Mängeln ist. Nach § 640 BGB wird mit der Abnahme erklärt, dass das Werk im Wesentlichen vertragsgemäß hergestellt wurde. Die Abnahme markiert somit einen zentralen Wendepunkt im Werkvertragsrecht: Sie beendet das Erfüllungsstadium, eröffnet das Mängelstadium und leitet den Beginn der Verjährungsfristen für Mängelansprüche ein.
a) Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik während der Bauausführung
Die Leistungen eines Unternehmers sind zum Zeitpunkt der Abnahme nur dann im Wesentlichen mangelfrei, wenn auch die in diesem Zeitpunkt geltenden anerkannten Regeln der Technik eingehalten wurden. Anerkannte Regeln der Technik sind technische Regeln, die von einer hinreichenden Zahl kompetenter Fachleute als theoretisch richtig erachtet werden und die sich in der Praxis durchgesetzt und über einen längeren Zeitraum als richtig bewährt haben. Nach weit verbreiteter Auffassung soll zudem die widerlegbare Vermutung gelten, dass DIN-Normen und andere technische Regelwerke wie DIN EN- und DIN EN ISO-Normen, VDE-Normen, VDI-Richtlinien anerkannte Regeln der Technik enthalten.
Die anerkannten Regeln der Technik sind vom Unternehmer sowohl in einem BGB-Vertrag als auch in einem VOB/B-Vertrag einzuhalten. Die Pflicht zur Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik zum Zeitpunkt der Abnahme wird in § 13 Abs. 1 VOB/B ausdrücklich geregelt. Die Klausel zu den Mängelansprüchen des Aufraggebers eines VOB/B-Vertrages ist stärker auf Bauverträge zugeschnitten und schreibt die Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik explizit vor.
Dementgegen sind die Vorschriften in §§ 633, 634 BGB für das gesamte Werkvertragsrecht konzipiert und somit allgemeiner formuliert. Sie bieten aber ähnliche Schutzmechanismen, denn die Pflichten des Unternehmers sind in beiden Regelwerken vergleichbar. Sowohl nach VOB/B als auch nach BGB muss der Unternehmer eine mangelfreie Leistung unter Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik zum Zeitpunkt der Abnahme erbringen. Anderenfalls ist er zur Nachbesserung berechtigt14 und verpflichtet.
- Ende des Auszugs -
Der vollständige Aufsatz „Mangelbeseitigung durch Unterlassen" von Rechtsanwältin Dr. Amneh Abu Saris und Rechtsanwalt Dr. Thomas Hildebrandt, erschien zuerst in der Fachzeitschrift „Baurecht“ (BauR 2025, 413-420, Heft 3). Sie können den Beitrag hier online betrachten und herunterladen.