Deutlich mehr Text
Positiv zu bewerten ist zunächst einmal, dass sich die Nummerierung der 20 (jetzt 21) Klauseln fast nicht geändert hat. Man muss sich also nicht vollkommen neu in den Vertrag einarbeiten, wenn man die Version aus 1999 kennt. Zudem gibt es neuerdings Zwischenüberschriften auf der dritten Ebene (also zum Beispiel 20.2.1, 20.2.2, 20.2.3), wodurch der Text übersichtlicher geworden ist.
Am auffälligsten ist jedoch der enorm ausgeweitete Umfang der Verträge. Das Red Book zum Beispiel umfasste bisher (ohne Anhänge) 62 Seiten mit insgesamt rund 30.000 Wörtern. Daraus sind nun 106 Seiten und mehr als 50.000 Wörter geworden. Der deutliche Textzuwachs ist dem neuen prä̱skriptiven, also verbindlich vorschreibenden Stil geschuldet. Durch diesen Stil sind die FIDIC-Verträge – noch mehr als vorher – Mittel der Projektsteuerung, denn die Verträge geben nunmehr die für viele Situationen sehr genau vor, was die Parteien und der Ingenieur jeweils tun müssen. Ein schönes Beispiel hierfür ist die neue Klausel 3.7, die nachfolgend beschrieben wird.
Festlegungen (determinations) des Ingenieurs nach Klausel 3.7 (bisher 3.5)
Der Ingenieur bleibt auch gemäß den FIDIC 2017-Verträgen (Red und Yellow Book) zur Entscheidung berufen, wenn sich die Parteien nicht über einen Claim einigen können. Die bisherige Klausel 3.5 des Red/Yellow Book 1999 beschrieb diese Streitschlichtungsfunktion auf nur acht Zeilen. Die neue Klausel 3.7 detailliert das Vorgehen des Ingenieurs und der Parteien auf fast drei Seiten. Neu ist unter anderem, dass der Ingenieur neutral sein soll („the Engineer shall act neutrally between the Parties“). Ob dies zu neuen Ergebnissen führen wird, ist abzuwarten. Auch bisher schon kam dem Ingenieur eine „quasi-neutrale“ Rolle zu, denn Klausel 3.5 der 1999-Fassung verpflichtete ihn (genauso wie Klausel 3.7 n.F.), eine „faire Entscheidung in Übereinstimmun mit dem Vertrag zu treffen“. Neu ist auch, dass der Ingenieur maximal 42 Tage Zeit hat, um eine Einigung zwischen den Parteien herbeizuführen. Scheitern seine Bemühungen um eine Einigung, so hat er weitere 42 Tage Zeit (insgesamt also 84 Tage), eine Entscheidung zu treffen. Unterlässt er es, innerhalb dieser Zeit über einen Claim zu entscheiden, so gilt der Claim als zurückgewiesen. Gegen eine Entscheidung des Ingenieurs kann die belastete Partei jetzt eine „Notice of Dissatisfaction“ (NOD) einreichen. Dies muss dann auch innerhalb von 28 Tagen geschehen. Erfolgt in dieser Frist keine NOD, so gilt die Entscheidung des Ingenieurs als von den Parteien akzeptiert. Dann ist sie endgültig bindend („final and binding“). Kommt eine Partei einer solchen endgültig bindenden Entscheidung des Ingenieurs nicht nach, kann die andere Partei die Sache direkt an das Schiedsgericht verweisen, ohne vorher das DAAB anrufen zu müssen (Klausel 3.7.5). Nach Einreichung einer NOD muss die belastete Partei außerdem innerhalb von 42 Tagen tatsächlich das DAAB anrufen; wird diese Frist versäumt, verliert die NOD ihre Wirkung und die Entscheidung des Ingenieurs wird endgültig bindend (Klausel 21.4.1 lit. a).
Einige Anwender werden den neuen präskriptiven Stil (und die damit verbundene Länge des Vertragstextes) begrüßen, andere werden diesen Stil eher ablehnen. FIDIC strebt damit „mehr Klarheit & höhere Rechtssicherheit“ an. Ob diese Ziele erreicht werden, erscheint zweifelhaft. Zu bedenken ist nämlich, dass ausführliche Regelungen im Zweifel stets eher Anknüpfungspunkte zum Argumentieren geben als kürzere. Außerdem wird erst die Zeit erweisen, ob die neuen Regelungen streitanfällig sind oder nicht. Sicher ist hingegen, dass es zukünftig noch schwieriger und „gefährlicher“ wird, die Verträge einseitig abzuändern. Denn die 21 ausführlichen Klauseln der FIDIC 2017-Verträge sind natürlich bis ins Detail aufeinander abgestimmt, und ändert eine Partei den Vertrag an einer Stelle, so birgt dies stets die Gefahr von Widersprüchen an anderen Stellen. Dies ist vielleicht sogar von FIDIC gewollt, denn die Organisation empfiehlt seit jeher, die Verträge nicht signifikant abzuändern. In der Vertragspraxis sind weitreichende Änderungen aber die Regel. Diese „fehlende Eignung“ der FIDIC 2017-Verträge zur schnellen Abänderung des Textes könnte dazu beitragen, dass die Vertragspraxis zukünftig weiterhin auf die Verträge aus 1999 zurückgreift.
Kritik an dem präskriptiven Stil
Ferner ist mit der Ausführlichkeit der Verträge eine hohe Komplexität verbunden: Es sind viele Formvorschriften zu beachten (z.B. ist in ca. 80 Situationen eine „Notice“ (Mitteilung) zu übergeben, die auch stets als „Notice“ zu bezeichnen ist) ); neue Klauseln mit Fiktionswirkung (deemed claues) und Ausschlussfristen (time bar clauses) machen es schwer, die Verträge zu verwalten, wenn nicht ein großes Maß an Erfahrung und Kapazität vorhanden ist. Ohne einen hohen Aufwand beim Vertrags- und Claim-Management kann es böse Überraschungen geben, wenn durch Zeitablauf eine Fiktion eingetreten oder ein Anspruch ausgeschlossen ist. Der erforderliche hohe Management-Aufwand lenkt alle Beteiligten ggf. von der eigentlichen Aufgabe des „Bauens“ ab. Deshalb sind die neuen FIDIC-Verträge wohl uneingeschränkt nur für sehr große oder sehr komplexe Bauvorhaben zu empfehlen, bei denen es sich lohnt, den hohen Aufwand zu betreiben. Im Schrifttum wird für diese Schwelle die Größenordnung von ca. 50 Millionen Euro genannt. Für kleinere Bauvorhaben vermisst man einen „Short Form of Contract“. Diesen Vertrag aus der 1999-Vertragsfamilie hat FIDIC im Rahmen seines Update 2017 nicht neu aufgelegt.
Neue Gegenseitigkeit der Pflichten der Parteien
Die bisherige Besserstellung des Auftraggebers (AG) bei Claims ist entfallen. Bisher galt für den AG keine Ausschlussfrist von 28 Tagen (Klausel 2.5 a.F.). Nunmehr müssen beide Parteien ihre Claims innerhalb von 28 Tagen anmelden (Klausel 20.2.1). Auch diverse andere Neuerungen verstehen sich als Umsetzung des Grundsatzes der „Gegenseitigkeit der Pflichten der Parteien“. Zum Beispiel unterliegen nach der Klausel 6.3 FIDIC 2017 auch der AG und der Ingenieur einem Verbot, Arbeitnehmer des AN abzuwerben. Bisher galt dieses Verbot lediglich für den AN. Zudem ist jetzt auch der AN berechtigt, den Vertrag zu beenden, wenn der AG sich eines Betruges oder der Korruption schuldig gemacht hat (Klausel 16.2.1 lit. j). Bisher gab es diesen Beendigungsgrund nur für den AG.
Dispute Avoidance / Adjudication Board (DAAB)
FIDIC hat das bisherige Dispute Adjudication Board (DAB) neu konzipiert und mit einem neuen Namen versehen, um den Charakter dieses Boards zur Streitvermeidung zu betonen (Klausel 21.1-21.4 FIDIC 2017). Es heißt nunmehr Dispute Avoidance / Adjudication Board (DAAB). Neu ist insbesondere die Möglichkeit, eine Frage einvernehmlich dem DAAB vorzulegen, Klausel 21.3 FIDIC 2017 [Avoidance of Disputes]. Dabei sind die Parteien nicht verpflichtet, der Meinung des DAAB zu folgen. Mit dieser informellen Anhörungsmöglichkeit versucht FIDIC, Meinungsverschiedenheiten aufzulösen, bevor sie zu einem Streit eskalieren. Neu ist außerdem, dass jetzt in allen drei FIDIC-Büchern ein „standing DAAB“ vorgesehen ist, also ein sich am Anfang der Bauphase konstituierendes Gremium, das sich in regelmäßigen Abständen trifft, auch wenn noch kein Streit entstanden ist. Die FIDIC-Bücher Yellow und Silver 1999 sahen bisher noch jeweils ein „ad hoc DAB“ vor, welches nur zusammentritt, wenn ein Rechtsstreit entsteht. Diese Neuerung ist der Überzeugung von FIDIC geschuldet, dass sich ein von Anfang an bestehendes Gremium, welches die Bauphase begleitet, zur Streitvermeidung und -schlichtung besser geeignet ist.
Durchsetzung von DAAB-Entscheidungen, insbesondere zum Pesero Case
Der Durchsetzung von DAAB-Entscheidungen dient zum einen die Änderung in Klausel 21.7 FIDIC (bisher Klausel 20.7) [Failure to comply with DAAB‘s Decision]. Weigert sich eine Partei, einer DAAB-Entscheidung Folge zu leisten, kann die andere Partei diese Nichtbefolgung im Wege eines beschleunigten Schiedsverfahrens angreifen und somit die Vollstreckbarkeit erreichen. Dies gilt sowohl dann, wenn die DAAB-Entscheidung „final and binding“ geworden ist, aber auch dann, wenn sie nur „binding“, aber noch nicht „final“ ist. Hier bestand in der Vergangenheit eine Rechtsunsicherheit (Persero Case).
Der besseren Durchsetzung von DAAB-Entscheidungen dienen zum anderen die Neuerungen in den Klauseln 15 und 16 FIDIC 2017, wonach bei Nichtbefolgung einer DAAB-Entscheidung die jeweils andere Partei berechtigt ist, den Vertrag zu beenden. Der AN ist gemäß Klausel 16 FIDIC 2017 ferner berechtigt, im Falle der Nichteinhaltung einer DAAB-Entscheidung seitens des AG, die Arbeiten einzustellen (suspension).
Weitere wichtige Änderungen und Schlussfolgerung
Klausel 3.5 Red/Yellow Book bzw. Kausel 3.4 Silver Book 2017: Der AN muss zukünftig auf Mehrkosten hinweisen, wenn er bei einer Anordnung von einer Leistungsänderung ausgeht, obwohl der Ingenieur die Anordnung nicht als Leistungsänderung kenntlich gemacht hat. Der AN muss diesen Hinweis bereits vor der Ausführung der Anordnung erteilen. Diese Hinweispflicht erinnert an die Mehrkostenanzeige nach § 2 Abs. 6 VOB/B. Bezweckt ist jeweils eine höhere Kostensicherheit für den AG.
Klausel 8.4 FIDIC 2017: Beide Parteien und der Ingenieur müssen sich gegenseitig auf Umstände aufmerksam machen, die sich nachteilig auf die Bauarbeiten oder auf die fertige Bauleistung auswirken, bzw. die den Vertragspreis erhöhen oder die Bauzeit verlängern könnten (advance warning). Hier folgen die FIDIC-Verträge dem Beispiel der NEC-Verträge, die eine solche Pflicht schon lange kennen.
Insgesamt ist festzustellen, dass FIDIC seine wichtigsten Standardverträge grundlegend modernisiert hat. Sie beinhalten jetztzahlreiche neue vernünftige Lösungen, von denen hier nur die wichtigsten vorgestellt werden konnten. Da sich der Umfang der Verträge und ihre Komplexität aber deutlich erhöht haben, muss die Praxis zeigen, inwieweit sich die FIDIC 2017-Verträge durchsetzen und bei welcher Art von Projekten sie tatsächlich zur Anwendung kommen werden.
Dr. Jan-Bertram A. Hillig, Rechtsanwalt und Solicitor (England und Wales)
E-Mail: jbh@bodenheimerherzberg.com
FIDIC Jahreskonferenz 2018
Die FIDIC-Jahreskonferenz findet vom 9. bis 11. September 2018 in Berlin statt. Hier geht es zur englischsprachigen Webseite.
Arbeitskreis Internationales Baurecht
Die nächste Sitzung des Arbeitskreises (AK) Internationales Baurecht der ARGE Baurecht findet am 15. November 2018 in Wien statt, unmittelbar vor der Tagung der ARGE Baurecht am 16. und 17. November 2018). Bei Interesse wenden Sie sich bitte per E-Mail an Rechtsanwalt Dr. Jan-Bertram A. Hillig oder Rechtsanwalt Christian Meier.