„Wir brauchen eine neue Baukultur“

„Ohne die Baubetriebswirtschaft würde auf der Baustelle kaum etwas funktionieren“, sagt Prof. Dr. Felix Möhring selbstbewusst. In seiner Brust schlagen zwei Herzen: das eines Sachverständigen und das eines Lehrenden der Baubetriebswirtschaft. Das macht ihn zu einem idealen Gesprächspartner, um das Zusammenspiel zwischen Baubetrieblern und Baurechtlern näher zu beleuchten.

Im Interview erläutert er zudem, was auf den Baustellen des Landes schiefläuft und welche Möglichkeiten er sieht, um das Zusammenspiel aller am Bau Beteiligten zu verbessern.

 

Herr Prof. Möhring, welche Rolle spielt die Baubetriebswirtschaft auf der Baustelle?

Die Baubetriebswirtschaft spielt natürlich eine zentrale Rolle. (lacht) Allerdings muss man die Baubetriebswirtschaft aus Sicht der Sachverständigen und aus Sicht der Lehre unterscheiden. Letztere beinhaltet die komplette Bauauftragsrechnung für Bauprojekte – von der Angebots- über die Nachtrags- bis zur Nachkalkulation. Sie umfasst aber auch die Abrechnung von Bauvorhaben sowie die Terminplanung und das zugehörige Controlling. Das ist ein breiter Bogen. Die Sachverständigen bearbeiten in der Regel nur einen kleinen Ausschnitt, die Nachtragspreisbildung sowie das Terminplancontrolling.

Anders formuliert: Die Baubetriebswirtschaft umfasst den gesamten ökonomischen Bereich der Bauabwicklung und ist damit das Herzstück des gesamten Bauprozesses – denn am Ende wollen alle Geld verdienen.

 

Baubetriebler sagen: „Ohne uns geht auf der Baustelle nichts!“, Baurechtler sagen das Gleiche, natürlich auf sich bezogen. Wer hat recht?

Natürlich geht ohne uns Baubetriebler nichts auf der Baustelle. (lacht) Wir rechnen, die Baurechtler schreiben – und nicht selten entsteht daraus ein Ping-Pong-Spiel. Aus meiner Sicht ist das nicht sehr zielführend, wenn man das so betrachtet. Der Bau ist mittlerweile so hoch spezialisiert und komplex, sodass jeder Bereich seine Berechtigung hat.

Die Baurechtler neigen allerdings dazu, uns oftmals als ‚Hilfswissenschaftler‘ zu bezeichnen, mit einem Verständnis als ‚verlängerte Werkbank‘ ihrer Tätigkeit. Eigentlich sollte es ein interdisziplinäres Zusammenspiel sein. Gerade bei Baustreitigkeiten sind beide Seiten gefordert, um zu einer fundierten Aussage zu kommen. 

 

Bauen innerhalb der geplanten Zeit und Kosten ist eine Seltenheit in Deutschland. Was läuft auf den Baustellen hierzulande schief?

Erster Punkt: In der Regel wird angefangen zu bauen, bevor die Planungen – Ausführungsplanung, Detailplanung – abgeschlossen sind. Das führt dazu, dass baubegleitend nachgeplant werden muss, was zu enormen Problemen führt.

Zweitens haben wir das Vergabewesen, das dazu führt, dass Unternehmen oftmals spekulativ kalkulieren, um den Zuschlag zu erhalten. Auf den Baustellen führt das regelmäßig zu großen Verwerfungen und es entsteht extrem hoher – und eigentlich unnötiger – Druck auf die Projektteams. Das wiederum führt zu Aktionen auf der Baustelle, die häufig für einen Dritten nicht mehr nachvollziehbar sind.

Der dritte Punkt ist der Ausbildungsstand auf den Baustellen. Wir haben vielfach wenig erfahrene Kräfte in Leitungspositionen, die Probleme nicht souverän handhaben und schnelle und klare Entscheidungen treffen können – der Controllingdruck auf allen Ebenen frisst Verantwortungsbereitschaft und -übernahme. Das sind aus meiner Sicht die drei großen Probleme auf der Baustelle.

 

Das größte Problem auf den Baustellen des Landes ist das Mindset der Baubeteiligten.

 

Welche Optionen sehen Sie, um das Geschehen auf der Baustelle zu verbessern?

Nun, es gibt eine Reihe guter Initiativen, die darauf abzielen, das komplexe Geschehen auf einer Baustelle besser beherrschbar zu machen. Ich denke dabei etwa an die Integrierte Projektabwicklung (IPA) und die entsprechenden Mehrparteienverträge. Dann haben wir das große Thema BIM und das ebenso große Thema Lean Management.

Das ist alles gut und schön, aber es ändert nichts an dem Mindset mit dem alle am Bau Beteiligten im Bauprozess derzeit unterwegs sind. In der Regel sind zwei Hauptakteure (Auftraggeber und Auftragnehmer) unterwegs und jeder versucht, den größtmöglichen Profit herauszuschlagen. Diese Einstellung wiederum provoziert ein Verhalten, das nur in eine Abwärtsspirale in den Projekten münden kann.

Professor George A. Akerlof von der Berkeley-Universität in Kalifornien beschrieb dieses Problem bereits im Jahr 1970 am Beispiel des Gebrauchtwagenmarktes.1 Seine Theorie besagt, dass, wenn sich Beteiligte untereinander immer übervorteilen, sich die Märkte nach unten drehen. Genau diese Entwicklung können wir seit vielen Jahren am Bau beobachten. Solange das nicht nachhaltig aufgebrochen werden und das Mindset geändert werden kann, wird sich daran nichts gravierend ändern.

Wir können auch nicht 489 Mrd. Euro Bauvolumen mit Mehrparteienverträgen abwickeln. Aus meiner Sicht lässt sich das nur verändern, indem wir in der Ausbildung eine neue Baukultur auf der Basis eines anderen Wertverständnisses vermitteln, die dann von den nachwachsenden Generationen in den Markt getragen wird.

Was mich positiv stimmt, ist, dass meine Studierenden schon mit ganz anderen Werten in die Vorlesungen kommen. Die sagen schlicht und einfach: „Das finden wir doof, das wollen wir anders machen! Genau das brauchen wir!"

Es gibt eine Reihe von Initiativen wie IPA oder BIM, um das Geschehen auf der Baustelle zu verbessern.

Was sind die größten Herausforderungen für den Baubetrieb und seine Protagonisten?

Ich sehe zwei große Themen. Erstens die äußerst fragmentierte Rechtsprechung zu verzögerten Bauabläufen. Die Oberlandesgerichte haben das Thema in unzählige einzelne Anforderungen aufgeteilt, die uns extreme Probleme in der Darstellung und Verknüpfung bereiten – sie geben immer mehr Anlass zu weiterem Streit als zu Lösungen zu gelangen.

Zweitens die Umsetzung des neuen Bauvertragsrechts, insbesondere des § 650c Absatz 1 BGB. Wenn wir das streng nach unserer Baukalkulationslehre betrachten, stoßen wir schnell an die Grenzen des Machbaren, insbesondere zu den Einzelkosten Lohn und Gerät sowie zu den ‚angemessenen Zuschlägen‘.

Die Baubetriebswirtschaftslehre sucht derzeit nach neuen Strukturen, um diese Dinge abbilden zu können. Die Juristen gehen damit, salopp gesagt, etwas simplifizierter um, was mich zu der Frage bringt, inwieweit wir Baubetriebler diesen juristischen Vorgaben folgen sollten oder wo wir nicht besser eigene Systeme schaffen können.

Zum Glück können die meisten Baujuristen dafür ein gewisses Verständnis entwickeln und gute Denkansätze einbringen, sodass wir zu machbaren Lösungen kommen könnten. Es gibt aber auch einige Baurechtler, die uns schlicht sagen: „Stellt euch nicht so an.“ (lacht)

 

Viele Branchen sind derzeit im Umbruch? Wie ist das bei Ihnen? Welche Trends und Entwicklungen beeinflussen Ihren Arbeitsalltag?

Im Sachverständigenbüro haben wir viele Bewegungen in Richtung Digitalisierung. Ein Ansatz ist, die sogenannte ‚konkrete bauablaufbezogene Darstellung‘ zu visualisieren. Die klassischen Balkendiagramme oder vernetzten Balkenpläne sind Auslaufmodelle.

Wir setzen auf datenbasierte Filme, zum Beispiel auf Erklär-Videos, die auf 3D-CAD Modellen aufsetzen, um die Leute schneller mitzunehmen und deutlich zu machen, was warum wie genau gelaufen ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben haben.

Wir haben gemerkt, dass 500 Seiten dicke Baubetriebsgutachten kaum mehr gelesen, geschweige denn durchdrungen werden. Das wiederum führt zu endlosen Debatten, endlosen Schriftsätzen und in der Folge zu endlos langen Verfahren. Deshalb positionieren wir uns mit solchen Aufbereitungen im Markt, was in einigen Projekten schon sehr gut geklappt hat.

Ein weiterer Trend ist das kooperative Bauen. Dafür setzen wir eine digitale Plattform auf, über die sich Auftraggeber und Auftragnehmer über baurechtliche und baubetriebliche Sachverhalte austauschen können. Das System achtet darauf, dass dabei bestimmte Regeln befolgt werden. So wird automatisch kontrolliert, ob eine Antwort eingegangen ist und ob dies fristgerecht geschehen ist. Damit wollen wir den Bauablauf kooperativer gestalten.

Dann haben wir noch die Nachhaltigkeitsdebatte, die immer stärker wird, sodass ich mir vorstellen kann, dass dadurch die rein ökonomische ‚Denke‘ ein Stück weit zurückgedrängt wird. Mittlerweile sehen wir Planungen, in denen Ökosystem-Leistungen eingepreist werden. In diesem Bereich werden wir uns noch einmal deutlich bewegen müssen.

 

Aus meiner Sicht würde es uns auch manchmal ganz guttun, die steigende Komplexität kritisch zu betrachten und sich zu fragen: Lösen wir damit noch etwas oder schaffen wir damit nicht noch mehr Probleme?

 

Wie beeinflussen sich Baubetrieb und Baurecht gegenseitig? Wir beurteilen Sie das Zusammenspiel von Baubetriebswirtschaftlern und Baurechtlern?

Baubetrieb und Baurecht beeinflussen sich schon sehr stark. Wie weiter oben schon gesagt: Wir Baubetriebler haben immer etwas das Gefühl, dass wir den Baujuristen hinterherlaufen. Juristen argumentieren in ihrer Auslegung und wir versuchen daraufhin immer Modelle zu bilden, mit denen wir rechnen oder etwas nachweisen oder abbilden können.

Zum Glück diskutieren wir viel miteinander und tauschen uns aus, etwa beim Deutschen Baugerichtstag oder dem Deutschen Baubetriebs- und Baurechtstag von Prof. Dr. Ralf Schottke an der Leuphana Universität in Lüneburg.

Diese Zusammenkünfte sind oft sehr dominant von Baurechtlern besetzt, die eine ganz andere Denklogik einbringen. Hier sollten wir uns mehr beteiligen. Wichtig ist, dass wir im Austausch bleiben und gegenseitig für Verständnis sorgen. Das klappt in vielen Fällen schon sehr gut – ist aber immer auch ein Stück weit personenabhängig.

 

Wie lässt sich das Zusammenspiel verbessern?

Der Austausch ist wichtig, aber auch das gegenseitige Verständnis. Helfen würden vielleicht Workshop-Formate, in denen man sich offen austauscht, Problem und ‚Baustellen‘ offenlegt, gemeinsam nach Lösungen sucht. Aus meiner Sicht würde es uns auch manchmal ganz guttun, die steigende Komplexität kritisch zu betrachten und sich zu fragen: Lösen wir damit noch etwas oder schaffen wir damit nicht noch mehr Probleme? Daran fehlt es im Moment noch, obwohl ich sicher bin, dass viele Beteiligte bereits ähnlich denken.

Wir sollten über Anreize nachdenken, kooperatives Handeln belohnen und nicht mehr nur den Profit als oberste Maxime betrachten. Wenn sich darauf niemand einlässt, bleibt alles, wie es ist.

 

Wie sieht die ideale Welt eines Baubetrieblers aus?

Als Sachverständiger habe ich die Vision eines ‚baubetrieblichen Thermomixes‘. Vorne kann man alle Daten aus der Baustelle einfüllen und hinten kommt ein fertiges Gutachten raus. (lacht)

Tatsächlich wäre ein solcher hochautomatisierter Datenverarbeitungsprozess wünschenswert. Es gibt zwar bereits viele Daten, aber das Zusammenspiel funktioniert noch nicht gut, da es zu viele Insel-Lösungen gibt.

Aus Sicht der Lehre muss ein Paradigmenwechsel des bereits erwähnten Mindsets auf den Baustellen stattfinden. Die Baubeteiligten müssen stärker auf Zielsetzungen des Projektes hinarbeiten, anstatt ständig opportunistisch zu agieren.

 

Herr Professor Möhring, wir danken für das Gespräch!

 

1 Der Aufsatz "The Market for Lemons: Quality Uncertainty and the Market Mechanism" von George A. Akerlof aus dem Jahr 1970 behandelt das Problem der asymmetrischen Information in Märkten, insbesondere am Beispiel des Gebrauchtwagenmarktes, wo Verkäufer mehr über die Qualität der Autos wissen als Käufer. Dies führt zu einer Marktverdrängung hochwertiger Güter und kann letztlich zum Zusammenbruch des Marktes führen, da Käufer im Durchschnitt weniger zu zahlen bereit sind, um das Risiko des Kaufs eines "Lemon" (mangelhaften Produkts) zu kompensieren. Die Arbeit löste einen Paradigmenwechsel in der ökonomischen Forschung aus, der als Neue Institutionenökonomik bis heute aktuell ist. Akerlof erhielt für seine Arbeit im Jahre 2001 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis.

Prof. Dr.-Ing. Felix Möhring

  • Professor an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe im Fachgebiet "Bauwirtschaft und Baumanagement im Landschaftsbau"
  • Experte im Bereich Landschaftsbau und Bauwirtschaft
Seit 2017 ist er geschäftsführender Gesellschafter des Sachverständigenbüros fairCM2
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