Kostenrahmen gesprengt, Bauzeit überschritten, Ruinen gebaut… Herr Grewe, warum gehen Großprojekte in Deutschland regelmäßig schief?
Ganz zentral ist nicht etwa falsche, sondern schlicht und einfach fehlende Planung! Es hat sich eine Kultur etabliert, in der Preise in die Welt gesetzt werden, die überhaupt nicht validiert sind. Zudem haben große Vorhaben Dimensionen erreicht, die nur schwer vorstellbar sind. Früher waren es Millionen, heute sind es Milliarden. Ein Flughafen für zwei Milliarden – das glaubt Ihnen jeder, weil er keine Vorstellung von dieser enormen Summe hat. Damit beginnt eine fatale Fehlentwicklung. Ein anfangs postulierter Kostenrahmen wird plötzlich zum Maß aller Dinge. In der weiteren Kostenplanung wird dieser nicht mehr wirklich hinterfragt und die Kosten laufen aus dem Ruder, bevor man mit dem Bauen überhaupt angefangen hat. Die Ursprünge dieses Vorgehens finden sich aus meiner Sicht in den Beschleunigungsgesetzen im Zuge der Deutschen Einheit. Um die Dinge voranzubringen, hat man seinerzeit viele große Projekte gestartet, bevor die Planung abgeschlossen war. Frei nach dem Motto ‚Es kostet, was es kostet‘. Das hat die Baukultur in Deutschland bis heute nachhaltig beeinflusst.
Was sind die häufigsten Fehler bei großen Bauprojekten?
Ein großes Problem ist das Anspruchsdenken aus Politik und Gesellschaft. Wenn ein Politiker ein Budget in den Raum gestellt hat, schaut bereits die vergebende Behörde darauf, diesen Rahmen nicht zu sprengen. In solchen Vergaben kann dann nicht mehr solide kalkuliert werden, da sie sich so sofort aus dem Wettbewerb schießen. Ein weiteres Problem ist die Komplexität. Heute geht es weniger um das Bauen auf der grünen Wiese, sondern vielmehr um das Einfügen in vorhandene Strukturen. Dabei müssen sie hunderte von Randbedingungen berücksichtigen. Denken Sie allein an die Versorgung eines großen Gebäudes mitten in der Stadt. Die Zuleitungswege müssen vielleicht umgebaut werden. Dazu brauchen Sie Genehmigungen. Sie müssen an Umleitungen und Sperrungen denken, die wiederum mit der weiteren Stadtplanung koordiniert werden müssen und so weiter. All diese Nebenschauplätze, die viel Zeit und Geld kosten können, werden geflissentlich übersehen. Für eine solide Zeit- und Kostenplanung ist das fatal.
Warum greift niemand ein?
Gerade bei großen Infrastrukturprojekten der öffentlichen Hand kommt es immer wieder zu einer verhängnisvollen Wirkungskette. Bevor sich ein Planer vernünftige Gedanken gemacht hat, stehen Baukosten und -zeiten im Raum. Kein Projektverantwortlicher sieht sich danach mehr in der Lage, diese von öffentlichen Erwartungen aufgeladenen Fehlplanungen zu korrigieren. Am Ende bleibt es an den Ausführenden hängen, festzustellen, dass Dinge so nicht oder sogar gar nicht baubar sind. Zumal sie als Planer ein viel zu geringes Honorar erzielen, da dessen Berechnung prozentual an die Gesamtsumme gebunden ist. Es stehen, nächstes Problem, viel zu wenig Mittel zur Verfügung, um ein großes Vorhaben vernünftig zu kalkulieren. Vielleicht ist alles drin, aber nicht in ausreichendem, realistischem Maße. So gelangt die Fehlplanung in die Ausführung. Spätestens dann fallen die Unzulänglichkeiten auf, es kommt zu Nachträgen, ersten Meinungsverschiedenheiten bis hin zu juristischen Auseinandersetzungen. Die Abwärtsspirale dreht sich weiter und das Projekt kommt zum Stehen. Und dann sind Ihre Kollegen dran (lacht).
Hand aufs Herz: Haben Sie eigene Erfahrungen mit schiefgegangen Bauprojekten?
Ich hatte immer das Glück, auf gut durchgeplante Projekte zu stoßen (lacht). Vielleicht fällt mir der Berliner Hauptbahnhof ein. Da war die Planung nicht fertig. Da haben wir beim Bauen festgestellt, dass das Objekt so nicht baubar war. Wir mussten während der Ausführung umfangreich umplanen, Genehmigungen einholen und den gesamten Bauablauf ändern. Zwischenzeitlich hatten wir rund 1.000 Leute auf der Baustelle stehen, die nicht arbeiten konnten. Was das für Bauzeit und -kosten bedeutet, kann sich jeder vorstellen.
Erst planen, dann bauen. Diesen einfachen Grundsatz will ja auch die Reformkommission durchsetzen. Kam der Tipp von Ihnen?
Ja, klar (lacht). Nein, im Ernst, auch wenn das genau mein Credo ist, der Ansatz ist aus der Kommission heraus entstanden. Damit eng verbunden ist auch die Empfehlung, öffentliche Aufträge an den wirtschaftlichsten und nicht an den billigsten Anbieter zu vergeben. Für die Praxis heißt das, dass der Bauherr sich seiner Pflichten wieder annehmen muss. Er muss das Objekt so beschreiben, dass er weiß, was er bauen will. Und zwar in allen Details mit einer vernünftigen Leistungsbeschreibung. Erst damit soll der Bauherr dann an den Markt gehen und qualifiziert ausschreiben. Nur dann kann ein solides und realitätsnahes Angebot entstehen. Die anbietenden Unternehmen müssen auch den Raum haben, auf Planungslücken hinzuweisen und diese nachzufordern oder sogar selbst zu füllen, damit sie ein Angebot erstellen können, das Hand und Fuß hat. Anders kann und darf es aus meiner Sicht nicht laufen.
Eine Empfehlung der Reformkommission Bau von Großprojekten ist der Einsatz von Building Information Modeling, kurz BIM. International ist man hier um einiges weiter als in Deutschland. Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Methode?
BIM ist sicherlich ein guter Ansatz, aber kein Allheilmittel. Es ist ein gutes Werkzeug, das bestimmte Abläufe erleichtern kann, aber ein Projekt funktioniert damit nicht automatisch. Großprojekte sind inzwischen so komplex geworden und BIM kann helfen, gute Grundstrukturen zu schaffen, die sie im weiteren Planungsverlauf nutzen können. Der Grundsatz ‚Erst planen, dann bauen‘ bleibt weiterhin wichtig. Sie müssen auch mit BIM ein fundiertes Projekt- und Risikomanagement aufsetzen und Stufe für Stufe durchgehen, sonst nützt das beste Werkzeug nichts. Viele andere Länder sind da weiter und in Deutschland besteht die Gefahr, international den Anschluss zu verlieren. Viele Länder, in denen viel und groß gebaut wird, der mittlere Osten, China, Hongkong oder Australien, fordern ab 2017 die Anwendung der Methode. Wenn Deutschland hier mitmischen will, muss es dringend aufholen.
Wie stehen Sie zum Konzept „Zuckerbrot und Peitsche“, also Belohnung für gute und Strafen für schlechte Bauprojekte?
Davon halte ich gar nichts (lacht). Wenn sie als Kapitän ein Schiff übers stürmische Meer navigieren und dabei auf eine Klippe laufen, sollten sie den Schaden nicht selbst bezahlen müssen. Ansonsten würde kein Kapitän mehr rausfahren. Ein Bonussystem halte ich für die bessere Lösung. Das wird international viel gemacht. Da werden Key Performance Indicators, KPIs, aufgesetzt und mit finanziellen Anreizen verbunden. Damit bringen Sie jeden Projektsteuerer und jede Baufirma ins Wirbeln.
Welche Anreize könnte es noch geben?
International kommt der Zielpreisvertrag vielfach zum Einsatz. Das Prinzip haben wir auch in der Reformkommission diskutiert. Voraussetzung ist eine faire und wirtschaftliche Ausschreibung. Außerdem müssen Sie nach Zuschlag die Urkalkulation öffnen. Denn dort finden Sie, neben der Basiskalkulation, AGK und BGK auch das Risikomanagement. Dessen Inhalte können Bauherr und Unternehmer dann gemeinsam unter die Lupe nehmen und auf Einsparpotenziale hin untersuchen. Nehmen wir das Beispiel Fensterbau. Als Unternehmer haben Sie 400 plus 40 Fenster kalkuliert, da beim Einbau immer was kaputt geht. Aufgrund gemeinsam überlegter Schutzmaßnahmen gehen nur 20 Fenster kaputt. Diese Ersparnis teilen sich Bauherr und Unternehmer brüderlich. Das halte ich für ein gutes und sinnvolles Vorgehen, zumal es die gute, alte solide Planung unterstützt. Denn die muss es geben, ansonsten funktioniert dieses Vorgehen nicht.
Die Bauten für Olympia in London konnten Sie eine Milliarde günstiger und vier Monate früher abschließen, als geplant? Verraten Sie uns ihr Erfolgsgeheimnis?
Ganz ehrlich: es gibt kein Geheimnis. Wir haben einfach nur ganz solide geplant. Nachdem London seinerzeit den Zuschlag erhalten hatte, haben wir erst einmal die schönen politischen Kostenschätzungen vergessen und alles ganz akribisch durchkalkuliert. Plötzlich standen nicht zwei, sondern neun Milliarden unterm Strich. Das hat erstmal alle schockiert. Am Ende, als wir es dann doch günstiger und schneller geschafft hatten, waren jedoch alle happy. Dabei lagen die Herausforderungen überhaupt nicht in den großen, am Ende sichtbaren Objekten. Das Olympiastadion haben wir zusammengesetzt wie einen Schrank von Ikea (lacht). Das hat ein Bauleiter alleine gemacht. Aber die Versorgungsleitungen, vor allem Wasser, hatten es in sich. Am Ende hatten wir allein dafür sieben Bauleiter, da alle wichtigen Verkehrsknotenpunkte in London betroffen waren.
Wie kriegen wir das auch in Deutschland hin?
Um dieses Vorgehen auch in Deutschland zu etablieren, wie es die Reformkommission fordert, müssen erst einmal alle Beteiligten umdenken. Das kommt einem Paradigmenwechsel gleich. Denn am Anfang werden Projekte erst einmal gefühlt teurer erscheinen, allein aufgrund der realistischen Planungen. Allerdings wird sich im Verlauf eines Projektes zeigen, dass es bei den geplanten Kosten bleibt. Neben der realistischen Planung und Kalkulation haben wir in London sehr auf Routinen gesetzt. Wer wann bei welcher Sitzung dabei sein musste, war detailliert geregelt. Aufgrund der soliden Kalkulation konnten wir am Ende knapp 15.000 Positionen günstiger gestalten und eine Milliarde Euro zurückgeben. Wenn ich es mir recht überlege, war genau das unser ‚Erfolgsgeheimnis‘: Disziplin – eine klassische deutsche Tugend.
Herr Grewe, wir danken Ihnen für das Gespräch!