
Die Richterinnen und Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht, Sabine Schwandt, Anke Viering und Dr. Frank Bodendiek erläutern im Gespräch, was genau sich hinter den Commercial Courts verbirgt, weshalb sie insbesondere für die Bauwirtschaft einen echten Gamechanger darstellen könnten und weshalb sie sich derzeit ganz besonders über neue Akten in ihrem elektronischen Posteingang freuen.
Warum braucht Deutschland aus Ihrer Sicht Commercial Courts?
Dr. Frank Bodendiek: Die Antwort liefert bereits der Titel des „Gesetzes zur Stärkung des Justizstandorts Deutschland“ – allein dadurch wird die Intention zur Schaffung der neuen Spruchkörper mehr als deutlich. Dies hat zum einerseits einen internationalen, andererseits aber auch einen innerdeutschen Aspekt. Bislang fehlte ein Ansatzpunkt, um komplexe wirtschaftliche Streitigkeiten zügig zu erledigen. Genau diese Lücke füllen die Commercial Courts.
Sabine Schwandt: Die Commercial Courts stärken zudem die Position der staatlichen Gerichte gegenüber der privaten Schiedsgerichtbarkeit. Schließlich können wir künftig Commercial Court-Verfahren vorrangig behandeln und damit zügiger Recht sprechen.
Welche Bedeutung hat der am 15. April 2025 feierlich eröffnete Commercial Court für Hamburg?
Bodendiek: Die Commercial Courts stärken den Wirtschaftsstandort Hamburg. Das haben alle gespürt, die an der Eröffnung teilgenommen haben – darunter Vertreter der maritimen und der Bauwirtschaft. Zudem war die in Hamburg traditionell starke Fachanwaltschaft anwesend. Über diese Wertschätzung haben wir uns sehr gefreut. Nun wird es darum gehen, die neuen Möglichkeiten auszuschöpfen und den Justizstandort Hamburg neben Düsseldorf, Stuttgart, Frankfurt und Berlin zu positionieren.
Schwandt: In Hamburg wird viel gebaut, es gibt sehr viele große Bauvorhaben. Diese örtliche Nähe zu diesem dynamischen Baugeschehen ist ein Vorteil, den wir natürlich für den Standort ausspielen wollen.
Anke Viering: Wir haben im Vorfeld sehr intensiv mit anderen am Justizstandort Hamburg Beteiligten zusammengearbeitet, darunter mit der privaten Schiedsgerichtsbarkeit und der Fachanwaltschaft, die beide in Hamburg stark vertreten sind. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir mit dem staatlichen Commercial Court eine attraktive Option zur Lösung von Baustreitigkeiten bieten können.
Wer sind die „typischen“ Nutzer des Commercial Court – eher internationale Konzerne oder auch mittelständische Unternehmen?
Schwandt: Wir gehen davon aus, dass beide Nutzerkreise gleichermaßen in Betracht kommen. Ein Streitwert ab 500.000 Euro aufwärts ist bei Bauvorhaben auch im Mittelstand schnell erreicht, sodass wir sowohl innerdeutsche als auch internationale Verfahren erwarten. Dazu könnten etwa große internationale Projekte wie Offshore-Windparks in der Nordsee gehören. Für diese stellt der Commercial Court mit der Option, Englisch als Verfahrenssprache zu wählen, einen großen Vorteil dar.
Bodendiek: Eine Stärke der Commercial Courts ist, dass es zwei Säulen gibt: das „nationale“ Verfahren auf Deutsch und das internationale Verfahren auf Englisch. Dadurch steht dieser besondere Instanzenzug mit nur einer Tatsacheninstanz für beiden Zielgruppen als attraktive Option offen, um Auseinandersetzungen zügiger als bisher zu erledigen.

Wie gelingt es, Vertrauen in die neuen Spruchkörper zu schaffen?
Bodendiek: Da wird es sicher auf die ersten Verfahren ankommen. Wir sind jedoch sehr zuversichtlich, dass es sehr schnell gelingen wird, Vertrauen aufzubauen. Denn wir konnten uns in Abstimmung mit der Gerichtsleitung und auch mit den anderen Gerichten optimal vorbereiten, um gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Wir freuen uns sehr, dass wir damit einen serviceorientierteren Ansatz umsetzen können, als man das sonst von Gerichten kennt.
Viering: Wir sind sehr gespannt auf die ersten Verfahren und behalten den eigentlich nicht so beliebten und chronisch überfüllten elektronischen Posteingang des Gerichts, insbesondere das Fach für den Commercial Court-Senat I, derzeit besonders im Auge. Das ist für uns Richterinnen und Richter auch etwas Besonderes, dass man sich darauf freut, eine neue Akte zu bekommen. (lacht)
Die Commercial Chambers und Commercial Courts werden mit besonders erfahrenen Richterinnen und Richtern besetzt. Was bedeutet das für die Qualität der Verfahren – etwa im Vergleich zur allgemeinen Zivilkammer?
Bodendiek: Da fällt uns vor allem das Thema Personalwechsel ein, der in anderen Instanzen durchaus regelmäßig geschieht. Es ist davon auszugehen, dass es während eines Verfahrens am Commercial Court eine konstante Begleitung durch die gleichen Richterinnen und Richter geben wird, was wiederum Qualität und Verfahrensdauer günstig beeinflussen wird.
Schwandt: Ja, dem kann ich nur beipflichten. Wir sehen am OLG viele Akten vom Landgericht und dabei fällt schon auf, dass es häufiger Personalwechsel gibt und sich neue Berichterstatter einarbeiten müssen, vielleicht noch einen neuen Ansatz einbringen oder den Fall anders bewerten. Das wird es am Commercial Court nicht geben.
Gibt es bereits erste Erfahrungen mit dem neuen Commercial Court in Hamburg? Sind bereits Verfahren gestartet oder vorgemerkt?
Bodendiek: Noch gibt es keine Erfahrungen, aber das ist nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Fälle eintreffen. Bisher gibt es in ganz Deutschland nur einen einzigen Fall, der vor einem Commercial Court verhandelt wird. Dieser findet nicht im Baurecht, sondern im Gesellschaftsrecht statt. Konkret geht es um einen M&A-Fall (Mergers and Acquisitions, Verschmelzung zweier Unternehmen zu einer rechtlichen und wirtschaftlichen Einheit, Anm. d. Red.).
Der Fall kam über eine Verweisung vom Landgericht zum OLG Düsseldorf. Wir gehen davon aus, dass in dem Fall das Landgericht die Parteien im bereits laufenden Verfahren auf die Verfügbarkeit der Commercial Courts ausdrücklich hingewiesen hat und die Parteien daraufhin Verweisung an den Commercial Court beantragt haben.
Viering: Verweisungen vom Landgericht könnten in den nächsten Wochen und Monaten genau der Weg zum Commercial Court sein. Daher sehen wir künftigen Verweisungen nach § 611 ZPO durchaus positiv entgegen. Dieser Weg steht ab sofort allen Parteien offen, sofern der Streitwert über 500.000 Euro liegt und die Klagerwiderungsfrist noch nicht abgelaufen ist.
Die Commercial Courts sind u. a. zuständig für zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen Unternehmern (§ 119b GVG). Wie ist das konkret mit typischen Fällen aus dem privaten Baurecht – etwa Streitigkeiten zwischen Generalunternehmern und Planern?
Bodendiek: Zunächst einmal sind Unternehmer nicht zwingend Kaufleute im Sinne des HGB. Sie sind vielmehr nach § 14 BGB definiert und dazu gehören ausdrücklich auch Freiberufler. Insofern können auch freiberuflich tätige Planer Partei eines solchen Commercial-Court-Verfahrens sein.
Aufgrund der Bezugnahme des § 119b GVG auf § 14 BGB können wir grundsätzlich auch Fiskusbausachen erfassen, da auch juristische Personen des öffentlichen Rechtsu.U, als Unternehmer behandelt werden. Insofern müsste allerdings im Einzelfall eine nähere Prüfung erfolgen. Aus unserer Sicht wäre es aber absolut sinnvoll, wenn wir am Court auch Fiskusbausachen verhandeln würden, da gerade diese Fälle häufig sehr komplex sind und mit dem neuen Ansatz gut bearbeitet werden könnten.

Bei komplexen internationalen Bauprojekten sind häufig auch fremdsprachige Verträge oder FIDIC-Bedingungen im Spiel. Können diese vor dem Commercial Court in Englisch verhandelt werden?
Bodendiek: Neben der Vereinbarung der Zuständigkeit des Commercial Courts kann auch eine Sprachvereinbarung getroffen werden, sodass das gesamte Verfahren in englischer Sprache durchgeführt wird. Wir haben das komplette Formularwesen bereits auf Englisch vorbereitet. Dies betrifft die Commercial Courts und die Commercial Chambers am Landgericht Hamburg.
Natürlich ist das rein englischsprachige Verfahren Neuland für alle Beteiligten. Alle Kolleginnen und Kollegen, die sich in Hamburg für die neuen Spruchkörper gemeldet haben, haben sich aber auch dazu bereit erklärt, vollständig auf Englisch zu verhandeln. Das ist auch unser Ziel. § 184a GVG gibt uns jedoch auch die Möglichkeit, umfangreiche und komplexe Vertragswerke übersetzen zu lassen.
Im Übrigen lassen die Neuregelungen eine große Flexibilität zu. So ist es möglich, sich bei Bedarf durch einen Übersetzer begleiten zu lassen und Schriftsätze im Einvernehmen der Parteien auch mal auf Deutsch zu verfassen.
Gerade im Bauprozess geht es oft um sehr technische Fragestellungen, etwa zur Ausführungsplanung oder Mängelbeseitigung. Wie stellen Sie sicher, dass diese auch im englischsprachigen Verfahren korrekt eingeordnet und bewertet werden?
Bodendiek: Nach § 404 ZPO können wir als Gericht die zuzuziehenden Sachverständigen auswählen. Dabei würden wir natürlich sicherstellen, dass ein Sachverständiger bereit und willens ist, vollständig auf Englisch zu verhandeln. Im Zweifel können wir auch englischsprachige Sachverständige aus dem europäischen Ausland hinzuziehen.
Schwandt: Das Thema Sachverständige könnte auch ein Punkt sein, den wir im den Commercial Court-Verfahren vorangestellten Organisationsterminen besprechen. Dabei wird die Verhandlungssprache vereinbart und somit können sich die Parteien auch gleich auf geeignete Sachverständige verständigen.
Frau Schwandt, Sie sprechen einen Wesenszug der Commercial Court Verfahren an, den sogenannten Organisationstermin. Was hat es damit auf sich?
Schwandt: Der Organisationstermin ist ein zentrales und charakteristisches Element der Commercial Court Verfahren in Deutschland. Die ZPO wurde hierfür um spezielle Vorschriften ergänzt, insbesondere um den neuen § 612. In dem frühzeitig anzuberaumenden Pflichttermin treffen wir mit den Parteien Vereinbarungen über die Organisation und den Ablauf des Verfahrens. Ziel ist es, den Sach- und Streitstoff zu strukturieren, den Verfahrensablauf effizient zu gestalten und eine gewisse Planungssicherheit zu schaffen. Dabei kann erörtert werden, ob ein Güteverfahren durchgeführt werden soll oder Details zur Beweisaufnahme können geklärt werden. Es kann besprochen werden, wie viele Schriftsätze ausgetauscht werden sollen – und eben auch, in welcher Sprache verhandelt werden soll.
Bodendiek: Mit dem Organisationstermin, der nach Vorliegen der Klagerwiderung vereinbart wird, ermächtigt uns das Gesetz dazu, proaktiv in die Zukunft zu schauen und die zentrale Frage zu beantworten: Was kommt da auf die Parteien zu? Damit unterscheidet sich das Verfahren vor dem Commercial Court deutlich von klassischen Zivilprozessen, in denen ein solcher Termin bislang nicht zwingend vorgesehen war. Übrigens können Organisationstermine auch per Videokonferenz durchgeführt werden.
Organisationstermin im Commercial Court Verfahren
Der Organisationstermin ist ein zentrales Element im Verfahrensablauf vor dem Commercial Court. Er findet zu Beginn des Verfahrens statt und dient dazu, gemeinsam mit den Parteien die Organisation und den Ablauf des gesamten Prozesses zu strukturieren.

Der Commercial Court soll Verfahren effizienter und planbarer machen und der obligatorische Organisationstermin trägt sicher dazu bei. Aber wie stellen Sie sicher, dass es in diesem Sinne weitergeht und die Prozesse nicht ausufern, wie es in klassischen Baustreitverfahren nicht selten passiert, etwa bei Sachverständigenfragen?
Bodendiek: Die Offenheit und Transparenz im Organisationstermin sind sicher ein guter erster Schritt. Was ebenfalls hilft, ist unsere Erfahrung mit erstinstanzlichen Bauverfahren und das Wissen, auf welche Stellschrauben es an dieser Stelle ankommt. Grundsätzlich sind Commercial-Court-Verfahren von einer gewissen Kooperationsbereitschaft der Parteien geprägt. Darauf baut auch der Organisationstermin auf, in dem verbindliche Festlegungen getroffen werden, die im weiteren Verfahrensverlauf eingehalten werden müssen. Wenn es den Parteien jedoch nur darum geht, eine Lösung des Rechtsstreits zu verhindern, stößt auch das System des Commercial Courts an seine Grenzen.
Schwandt: Im Verfahren vor dem Commercial Court können wir auch Dinge abschichten und beispielsweise eine der folgenden Fragen stellen: Muss man wirklich alles aufklären oder kann man einzelne Punkte auch unstreitig stellen oder zurückstellen? Können wir zunächst stichpunktartig Beweise erheben, um weiterzukommen? Aus Erfahrung mit großen Bausachen wissen wir, dass man erst einmal einen Anfang finden muss und dass derartige Maßnahmen dabei helfen. All das können wir im Organisationstermin besprechen.
Viering: Da sie mit der Wahl des Commercials Court den Instanzenzug verkürzen, können sie nicht abwarten, was die zweite Instanz möglicherweise entscheidet, und dann erst über die Abschichtung von Details entscheiden. Sie müssen von Anfang an klar definieren, was Sie erreichen wollen, und das Verfahren entsprechend gestalten. Das ist ein großer Unterschied – und aus meiner Sicht auch ein Vorteil – zum Verfahren über zwei Tatsacheninstanzen.
Gibt es – ähnlich wie in London – Ansätze zur frühzeitigen einvernehmlichen Streitbeilegung, etwa durch gerichtlich moderierte Vergleiche oder spezialisierte Mediation?
Schwandt: Ja, unbedingt. Wenn die Parteien es wünschen, können wir im Commercial Court also auch einvernehmlich Methoden wie die gerichtsnahe Mediation nutzen. Nach unserem Verständnis würde § 278 ZPO über § 610 ZPO Anwendung finden. Mit der Methode der gerichtsnahen Mediation sind wir gut vertraut, da wir seit Jahren auf diese Weise immer wieder komplexe Bausachen außergerichtlich lösen. Derzeit haben wir drei aktive Mediatoren am Oberlandesgericht: Frau Viering, mich und einen weiteren Kollegen, der auch Mitglied eines Commercial Court-Senates ist. Durch die Gestaltung der internen Geschäftsverteilung haben wir sichergestellt, dass wir auch im Verfahren vor dem Commercial Court stets Mediationen anbieten können.
Wie geht es Ihnen persönlich mit der bevorstehenden Aufgabe. Was erwarten Sie von den neuen Spruchkörpern?
Viering: Ich freue mich sehr auf diese Aufgabe und hoffe, dass das erste Verfahren bald ansteht. Ich freue mich auf die neue Flexibilität, die neuen Regeln und den Organisationstermin. Natürlich hoffen wir, dass wir die intendierten Ziele – schneller und effektiver zu verhandeln – erreichen.
Schwandt: Dem kann ich mich nur anschließen. Wir sind startklar, wir sind motiviert und wir freuen uns darauf, dass es jetzt bald losgeht. Das liegt auch an der Arbeit im Team in den neu zusammengesetzten Senaten mit Kolleginnen und Kollegen, die alle Lust auf die Commercial Courts haben. Positiv ist auch, dass sich die Aufgaben in komplexen Verfahren, etwa die Berichterstattung zu einzelnen Ansprüchen, aufteilen lassen. Auf diese neuen Möglichkeiten freuen wir uns sehr.
Bodendiek: Gerade den von der Kollegin angesprochenen Aspekt der Arbeitsteilung halte ich für sehr spannend. Komplexe Verfahren lassen sich damit in kleinere Einheiten aufteilen und viel besser handhaben. Natürlich hoffen wir, dass die Anwaltschaft uns zutraut, künftig große Bausachen nicht nur rechtsstaatlich, sondern auch kunden- und serviceorientiert zügig zu erledigen. (lacht)
Frau Schwandt, Frau Viering, Herr Dr. Bodendiek, vielen Dank für das Gespräch!